Die unterirdischen Gänge von Schloss Friedenstein sind kühl und feucht, als ich an diesem Junimorgen mit meiner Taschenlampe hinabsteige. Während 46.400 Einwohner über mir ihrem Alltag nachgehen, entdecke ich hier unten ein verborgenes Labyrinth – Gothas bestgehütetes Geheimnis. Die Stadt liegt genau 20 Kilometer westlich von Erfurt in Thüringens Herzen, aber anders als die berühmten Nachbarstädte Weimar und Eisenach bleibt dieser barocke Schatz selbst vielen Deutschen unbekannt.
Gotha ist ein Paradox: ein monumentales Schloss mit 365 Zimmern – eines für jeden Tag des Jahres – in einer bescheidenen Mittelstadt. Zwischen meinen Fingern zerbröselt der jahrhundertealte Mörtel der Kasematten, jener geheimnisvollen unterirdischen Gewölbe, die einst die Herzöge von Sachsen-Gotha-Altenburg nutzten.
Das unterirdische Labyrinth: 46.400 Gothaer bewahren ein königliches Geheimnis
„Folgen Sie dem Gang, aber vorsichtig“, warnt mich der Schlossführer. Ich bin erst der dritte Besucher diese Woche in diesen Katakomben – ein krasser Gegensatz zu den überfüllten Gängen von Schloss Sanssouci. Die unterirdischen Gänge erstrecken sich mehrere Kilometer unter der Stadt und verbinden einst strategische Punkte.
Während Naumburger für seine weltberühmten Stifterfiguren bekannt ist, verbirgt Gotha sein Erbe im Untergrund. Der Legende nach versteckte die herzogliche Familie hier unten während der napoleonischen Kriege einen immensen Schatz, der bis heute nicht gefunden wurde.
Schloss Friedenstein selbst ist beeindruckend – der früheste barocke Schlossbau Deutschlands, errichtet 1643-1654. Doch während jährlich nur etwa 100.000 Besucher kommen, drängen sich in Weimar die Massen. Sarah, meine Frau, fotografiert die kunstvollen Stuckarbeiten im Spiegelsaal, während ich mehr über die Kasematten erfahre.
Das „vergessene Versailles“: Warum Gotha im Schatten Weimars verblasst
Oberhalb der unterirdischen Gänge erstreckt sich ein 69,58 Quadratkilometer großes Stadtgebiet, in dem über 30% der Altstadt unter Denkmalschutz stehen. So wie Durbach sich auf Weinkultur spezialisiert hat, machte Gotha sich mit Kartografie und dem Versicherungswesen einen Namen.
Im Deutschen Versicherungsmuseum entdecke ich, dass hier 1820 Europas älteste noch existierende Versicherung gegründet wurde. Im Justus-Perthes-Verlag entstanden ab 1785 weltberühmte Atlanten. Doch trotz dieser Superlative bleibt Gotha im Tourismus-Ranking weit hinter Weimar zurück.
„Wir kommen seit Jahren hierher, gerade weil es so ruhig ist. Man kann das Schloss genießen, ohne Selfie-Sticks umgehen zu müssen. Es fühlt sich an, als hätte man ein ganzes Barockschloss für sich allein.“
Dieses Gefühl bestätigt sich, als ich den Schlosspark betrete – 17 Hektar barocke Gartenkunst mit nur einer Handvoll Besucher. Anders als im kleinen Sommerach mit seinen gemütlichen Weingütern finde ich in Gotha historische Unterkünfte im Schatten des Schlosses, wo Zimmer für überraschend moderate 75-95 Euro zu haben sind.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zugang zu den Kasematten erfolgt über eine spezielle Führung, die nur zweimal wöchentlich stattfindet – dienstags und samstags um 14:00 Uhr. Reservieren Sie unbedingt vorab, da maximal 12 Personen teilnehmen können. Die unterirdischen Gänge sind teilweise eng und feucht – bringen Sie festes Schuhwerk und eine leichte Jacke mit.
Vom Hauptbahnhof erreichen Sie das Schloss in 15 Gehminuten bergauf. Oder nutzen Sie den Stadtbus Linie B bis zur Haltestelle „Schloss“. Parken können Sie kostenlos am Schlosspark, von wo aus es nur 5 Minuten zu Fuß zum Eingang sind.
Mein Geheimtipp: Besuchen Sie Gotha an einem Wochentag außerhalb der Ferienzeiten. Im Sommerrestaurant „Pagenhaus“ genießen Sie dann einen perfekten Blick auf das Schloss ohne Warteschlangen – bestellen Sie den Thüringer Rostbraten mit Klößen für authentischen Geschmack.
Als ich die Kasematten verlasse und ins Sonnenlicht trete, denke ich an all die Städte, die ich bereist habe. Emma, meine Tochter, würde die Geschichte vom verschwundenen Herzogschatz lieben. Gotha ist wie ein gut gehütetes Familiengeheimnis – jeder kennt den berühmten Cousin Weimar, aber nur wenige Eingeweihte wissen vom stillen, geheimnisvollen Verwandten. Während ich durch die leeren Galerien des Herzoglichen Museums schlendere, bin ich dankbar für diese seltene Authentizität – ein königliches Erlebnis ohne königliche Menschenmassen.