Weniger touristisch als Rothenburg versteckt diese thüringische Stadt von 215000 Einwohnern Europas größten mittelalterlichen Judenschatz

Die Morgensonne taucht die mittelalterlichen Giebel in goldenes Licht, während ich über das Kopfsteinpflaster durch Erfurts Altstadt schlendere. Mit 215.000 Einwohnern wirkt diese thüringische Stadt zunächst unscheinbar. Doch was mich hier erwartet, ist eines der faszinierendsten historischen Rätsel Europas: 3.864 mittelalterliche Gold- und Silberobjekte, versteckt in einer Mauer und erst 1998 zufällig entdeckt. Ein jüdischer Kaufmann verbarg diesen Schatz 1349 während der Pestepidemie in der Alten Synagoge – und kehrte nie zurück, um ihn zu holen.

Was mich an diesem Ort, nur 120 Kilometer westlich von Leipzig, besonders fasziniert: Während Tausende Touristen durch Rothenburg ob der Tauber strömen, bleibt Erfurt mit seinem jüdischen Erbe von Weltrang erstaunlich ruhig. Der perfekte Zeitpunkt, um dieses Juwel zu erkunden, bevor der kürzlich verliehene UNESCO-Status die Besuchermassen anlockt.

Der verborgene Schatz: 3.864 Zeugen eines ungelösten Mysteriums

Die Alte Synagoge Erfurts, erbaut im 11. Jahrhundert, beherbergt heute den spektakulären Fund: 3.100 Silbermünzen und 764 Gold- und Silberobjekte – darunter ein jüdischer Hochzeitsring von außergewöhnlicher Schönheit. Dieses Ensemble ist das größte seiner Art aus dem mittelalterlichen Europa.

„Die Münzen stammen aus ganz Europa und Nordafrika. Sie zeigen, wie vernetzt die jüdische Gemeinschaft bereits im 14. Jahrhundert war“, erklärt die Kuratorin, während ich einen gewaltigen Silberbarren betrachte. Besonders beeindruckend: Viele Stücke tragen hebräische Inschriften, die konkrete Handelswege dokumentieren.

Das eigentliche Mysterium bleibt jedoch: Warum kehrte der Besitzer nie zurück? Historische Aufzeichnungen aus dem März 1349 berichten von Pogromen während der Pestzeit, doch der Name des Kaufmanns taucht in keiner Opferliste auf. 650 Jahre lang blieb der Schatz unentdeckt – bis Bauarbeiter ihn zufällig fanden. Während ich durch Thüringens vertikale Rekorde: Vom höchsten Fachwerkturm zum tiefsten Konzertsaal bereits beeindruckt war, bietet Erfurts jüdisches Erbe eine noch tiefere historische Dimension.

UNESCO-Welterbe im Herzen Deutschlands

Seit September 2023 gehört Erfurts jüdisch-mittelalterliches Ensemble zum UNESCO-Weltkulturerbe – als 52. deutsche Welterbestätte. Neben der Alten Synagoge umfasst es die mittelalterliche Mikwe (rituelles Bad) und das Steinerne Haus, ein perfekt erhaltenes jüdisches Wohngebäude aus dem 12. Jahrhundert.

Im Vergleich zum überlaufenen Krakau mit seinen 7 Millionen Besuchern jährlich empfängt Erfurt nur etwa 700.000 Touristen – ein himmlischer Kontrast für Kulturreisende. Die Authentizität ist spürbar: Keine endlosen Souvenirshops, keine überteuerten Cafés. Stattdessen lokale Handwerker und Puffbohnen-Spezialitäten, die nur hier zu finden sind.

„In Venedig oder Prag fühlt man sich wie in einem Freizeitpark. In Erfurt kann ich noch atmen, während ich durch Jahrhunderte wandere. Die Geschichte ist hier nicht für Touristen inszeniert – sie lebt einfach.“

Mit der Krämerbrücke, Europas längster durchgängig mit Häusern bebauter Brücke (120 Meter), bietet Erfurt noch einen weiteren Höhepunkt. Die 32 Häuser beherbergen heute Kunsthandwerker und kleine Cafés. In der Nähe können Besucher auch Bürgel mit Deutschlands höchster Töpferdichte seit 450 Jahren erkunden – perfekt für Kunstliebhaber.

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Der ideale Zeitpunkt für einen Besuch ist August bis September 2025 – nach der Hauptsaison, aber vor dem erwarteten Tourismusanstieg 2026. Die Temperaturen sind mit 22-26°C angenehm, und die klimatisierten Ausstellungsräume der Alten Synagoge bieten eine willkommene Abkühlung.

Parken Sie kostenlos am P+R Urbicher Kreuz und nehmen Sie die Straßenbahn Linie 3 direkt ins Zentrum. Für Geschichtsinteressierte bietet Suhl mit seinem weltberühmten Waffenmuseum einen faszinierenden Tagesausflug von Erfurt aus – nur 60 Kilometer entfernt.

Besuchen Sie die Alte Synagoge früh morgens um 9 Uhr oder nach 16 Uhr, wenn die meisten Reisegruppen verschwunden sind. Der UNESCO-Audioguide (6€) bietet faszinierende Details zur Schatzentdeckung, die in keinem Reiseführer stehen.

Während meine Frau Sarah Fotos vom jüdischen Hochzeitsring macht – ein Meisterwerk mittelalterlicher Goldschmiedekunst – denke ich an all die Städte, die ich bereist habe. Erfurt fühlt sich anders an: Wie ein kostbares Manuskript, das noch nicht von zu vielen Händen berührt wurde. Im Licht der Spätsommersonne schimmern die alten Synagogenmauern wie der Gold- und Silberschatz, den sie einst verbargen – ein stiller Zeuge vergangener Zeiten, der noch darauf wartet, seine vollständige Geschichte zu erzählen.