Ich stehe auf der mittelalterlichen Stadtmauer, während die Morgensonne über die roten Ziegeldächer Wasungens kriecht. Unter mir breitet sich ein wahres Wunder aus – eine nahezu intakte Fachwerkstadt mit über 50% original erhaltener mittelalterlicher Architektur. Was mir jedoch niemand erzählt hatte: Dieses beschauliche thüringische Städtchen mit gerade einmal 5.437 Einwohnern beheimatet eine der ältesten dokumentierten Karnevalstraditionen Deutschlands, die bis ins Jahr 1524 zurückreicht. Ein verstecktes Juwel, das 2026 seinen 502. Karneval feiern wird – ein Jubiläum, das Kulturliebhaber jetzt auf dem Schirm haben sollten.
500 Jahre Karnevalstradition trifft mittelalterliche Fachwerkidylle
Wasungen ist kein gewöhnlicher Touristenort. Als ich über den Marktplatz schlendere, fällt mir das spätgotische Rathaus (erbaut 1532-1534) ins Auge. Der asymmetrische Erker quert beide Fachwerkgeschosse diagonal – eine architektonische Rarität, die ich so noch nie gesehen habe.
„Der Karneval ist hier keine Erfindung für Touristen“, erklärt mir ein älterer Herr, der seinen Kaffee vor dem Café schlürft. „Unsere Stadtakten von 1524 dokumentieren den ‚Schullast‘ – den Ursprung unseres Karnevals. Das macht uns zu einem der ältesten Karnevalsorte Deutschlands.“ Er zeigt auf die kunstvoll geschnitzten „Wilder Mann“-Symbole, die das Rathaus zieren.
Während größere Städte wie Köln oder Mainz für ihren Karneval weltberühmt sind, ist Wasungens Tradition fast 500 Jahre alt und gleichzeitig ein Geheimtipp geblieben. Die Fachwerkbauten bilden dabei mehr als nur eine Kulisse – sie sind Teil eines kulturellen Gesamtkunstwerks, das sich im Februar zur Hochsaison in ein lebendiges Freilichtmuseum verwandelt.
Bei meiner Erkundung stoße ich auf die mittelalterliche Kaiserpfalz Allstedt in der weiteren Umgebung – ein perfektes Ziel für eine historische Rundreise durch Mitteldeutschland.
Die Zeitreise nach Wasungen: Warum 2026 das perfekte Jahr ist
Der Februar 2026 markiert ein besonderes Datum: Den 502. Wasunger Karneval seit den ersten dokumentierten Feierlichkeiten. Die Vorbereitungen haben bereits begonnen. Als Reisejournalist habe ich unzählige Orte besucht, aber selten eine so authentische Verschmelzung von lebendiger Tradition und historischer Architektur erlebt.
„Unser Karneval ist keine Show für Touristen, sondern gelebte Geschichte. Die Kostüme haben lokale Bezüge, die Umzüge folgen Jahrhunderte alten Routen durch die engen Gassen unserer Fachwerkaltstadt.“
Fachwerkliebhaber werden Wasungen als unentdeckte Alternative zu bekannteren Orten wie Hornburg mit seinen 400 Fachwerkhäusern zu schätzen wissen. Der Unterschied: Hier ist das mittelalterliche Ambiente nicht für Touristen inszeniert, sondern authentisch bewahrt.
Für Kulturinteressierte bietet sich eine Kombination mit Arnstadt an, wo Bach seine ersten Kompositionen schuf – nur eine kurze Fahrt entfernt und perfekt für eine thematische Kulturreise durch Thüringen.
Das Geheimnis der Wasunger Streiche und das mysteriöse Mordtal
Wasungen hütet noch ein weiteres Geheimnis: Die „Wasunger Streiche“ – eine lokale Tradition ähnlich den Schildbürgerstreichen, aber mit eigenständigen Geschichten. Diese Streiche haben der Stadt einen besonderen Platz in der regionalen Folklore gesichert.
Für Naturliebhaber führt eine faszinierende Wanderroute durch das mysteriös benannte Mordtal – ein idyllisches Waldgebiet, dessen düsterer Name im Kontrast zur heutigen Naturschönheit steht. Die 12 km lange Route bietet atemberaubende Ausblicke auf die Vorderrhön.
Geschichtsinteressierte können ihre Thüringen-Tour mit einem Besuch des bronzezeitlichen Fürstengrabs in Sömmerda ergänzen – ein weiteres verstecktes historisches Highlight der Region.
Praktischer Reiseführer: So erlebst du Wasungens Doppelschatz optimal
Der beste Zugang erfolgt über die B19 oder mit der Bahn bis Meiningen (nur 11 km entfernt). Für längere Aufenthalte bietet sich das nahegelegene Friedrichroda als komfortable Übernachtungsbasis an.
Besuchen Sie Wasungen zu zwei optimalen Zeiten: Im Mai/Juni für idyllische Wanderungen im Mordtal und entspannte Erkundungen der Fachwerkaltstadt. Oder planen Sie jetzt schon für Februar 2026, wenn der historische Karnevalsumzug die engen Gassen zum Leben erweckt – idealerweise am Samstag vor Rosenmontag.
Mein Insider-Tipp: Besuchen Sie das Rathaus, wenn die morgendliche Sonne durch die Fenster fällt und die Holzvertäfelung aus dem 16. Jahrhundert in goldenes Licht taucht. Es ist ein magischer Moment, den meine Frau Sarah in ihren Fotografien kaum einfangen konnte.
Als ich Wasungen verlasse, denke ich an all die überlaufenen Touristenziele, die ich bereist habe. Dieser Ort fühlt sich an wie ein gut gehütetes Geheimnis – wie ein mittelalterliches Dorf, das durch die Zeit gereist ist und dabei seine Seele bewahrt hat. Emma würde die Karnevalsmasken lieben. Manchmal sind es diese unerwarteten Entdeckungen abseits der ausgetretenen Pfade, die uns an die wahre Essenz des Reisens erinnern.