Ich stehe auf dem Neumarkt in Oschatz, einem sächsischen Städtchen mit gerade einmal 14.202 Einwohnern, während die Morgensonne die Doppeltürme der St.-Aegidien-Kirche vergoldet. Vor mir erhebt sich ein Gebäude, das mich sofort in seinen Bann zieht – das Vogtshaus, erbaut um 1200, einer der ältesten erhaltenen Profanbauten Mitteldeutschlands. Wie kann es sein, dass dieses architektonische Juwel, nur 60 Kilometer östlich von Leipzig und 60 Kilometer westlich von Dresden, selbst unter Architekturliebhabern so wenig bekannt ist?
Warum dieses 14.202-Einwohner Städtchen eines der ältesten Profangebäude Mitteldeutschlands bewahrt
Das Vogtshaus in Oschatz stammt aus einer Zeit, als Friedrich Barbarossa noch Kaiser war. Mit seinem romanischen Baustil und den massiven Steinmauern hat es Kriege, Stadtbrände und Jahrhunderte überdauert. Während ich durch die niedrigen Türöffnungen schreite, fühle ich das Echo von über 800 Jahren Geschichte.
Besonders beeindruckend ist die hochwertige Steinmetzarbeit, die für das 12. Jahrhundert außergewöhnlich komplex war. Die Innenräume mit ihren niedrigen Decken und tiefen Fensternischen erzählen von einer längst vergangenen Epoche, als dieses Gebäude das Zentrum der Macht darstellte.
Nur wenige Schritte entfernt thront das Rathaus von 1477, dessen markanter Uhrenturm nach einem verheerenden Stadtbrand im Jahr 1842 vom berühmten Architekten Gottfried Semper – dem Schöpfer der Dresdner Oper – gestaltet wurde. Während Rochlitz mit seinem markanten Schloss punktet, besticht Oschatz durch sein kompaktes Ensemble mittelalterlicher Architektur.
Vogtshaus vs. Albrechtsburg: Warum Kenner mittelalterlicher Architektur lieber nach Oschatz fahren
Die Kleinstadt konkurriert nicht mit den prachtvollen Schlössern von Meißen oder dem barocken Dresden – und genau das ist ihr Vorteil. Während Touristenbusse die Parkplätze vor der Albrechtsburg in Meißen füllen, kann ich hier in Ruhe mittelalterliche Architektur studieren, ohne durch Selfie-Sticks navigieren zu müssen.
„Wer mittelalterliche Baukunst ohne die üblichen Menschenmassen erleben möchte, findet in Oschatz ein unberührtes Juwel. Die Authentizität ist hier noch spürbar – keine Souvenir-Shops, die die Atmosphäre zerstören.“
Ähnlich wie im hessischen Büdingen mit seinem beeindruckenden Denkmalbestand bietet Oschatz eine Zeitreise ins Mittelalter, die sich authentisch anfühlt. Sachsen hält noch weitere versteckte Kleinode bereit, wie Riesa mit seiner beeindruckenden Eisenskulptur – doch das mittelalterliche Erbe von Oschatz ist einzigartig.
Besonders faszinierend: Die St.-Aegidien-Kirche mit ihrer begehbaren Türmerwohnung. Nach 199 Stufen erwartet mich ein atemberaubender Blick über die Dächer der Stadt bis zum 312 Meter hohen Collmberg mit seinem Albertturm.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zeitpunkt für einen Besuch ist frühmorgens an Wochentagen, wenn die wenigen Besucher noch nicht unterwegs sind. Parken Sie kostenlos am Altmarkt und beginnen Sie Ihre Erkundung mit dem Vogtshaus, das besonders beim Tag des offenen Denkmals im September zugänglich ist.
Wer mit Kindern reist, sollte unbedingt den O-Schatz-Park besuchen – meine Tochter Emma war begeistert von den Kängurus im kleinen Tierpark und der unglaublichen Sammlung von 18.000 Kaffeekannen, die wie ein Kunstwerk arrangiert sind.
Ein Geheimtipp für Eisenbahnfans: Der „Wilde Robert“, eine historische Schmalspurbahn, verbindet Oschatz mit Mügeln. Nach Ihrer Zeitreise ins mittelalterliche Oschatz können Sie Ihre historische Entdeckungsreise im niedersächsischen Hitzacker fortsetzen, wo Sie sogar in die Bronzezeit eintauchen können.
Während ich mit meiner Frau Sarah noch einen letzten Espresso im Gasthaus zum Schwan (seit 1547 in Betrieb) genieße, wird mir bewusst, was Oschatz so besonders macht: Hier existiert mittelalterliches Erbe nicht als museale Kulisse, sondern als lebendiger Teil des Stadtlebens. Wie ein gut gehütetes Familienrezept hat Oschatz sein architektonisches Erbe bewahrt – unverfälscht und fernab vom Massentourismus. Und manchmal sind es genau diese unscheinbaren Orte, die die tiefsten Eindrücke hinterlassen.