Ich stehe auf dem Kirchplatz, umgeben von Pilgern, die ehrfürchtig die imposante neuromanische Basilika betrachten. In Werl, einer 29.600-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen, trifft religiöse Tradition auf unerwartete Naturschätze. Das Erstaunliche: Diese kleine Stadt empfängt jährlich über 100.000 Pilger – mehr als dreimal ihre eigene Bevölkerung – die das berühmte Gnadenbild „Trösterin der Betrübten“ aus dem 12. Jahrhundert verehren.
Die Sonne wirft lange Schatten über die historische Altstadt, während ich auf einer der Bänke sitze und beobachte, wie Pilgergruppen und Einheimische sich auf dem Platz mischen. Ein älterer Mann wischt sich den Schweiß von der Stirn – heute herrschen 26 Grad, perfektes Wetter, um sowohl die spirituelle als auch die natürliche Seite Werls zu erkunden.
100.000 Pilger in einer Stadt von 29.600 Einwohnern
Werl trägt seit 2015 offiziell den Titel „Wallfahrtsstadt“ – eine Anerkennung seiner jahrhundertealten Bedeutung als Pilgerziel. „Der drittgrößte Marienwallfahrtsort Deutschlands“, flüstert mir eine Frau zu, die Kerzen für die Basilika verkauft. In den Sommermonaten, besonders bei den Hauptwallfahrtsfesten, verwandeln Tausende Besucher die sonst beschauliche Stadt in einen Ort spiritueller Energie.
Doch nur 800 Meter von der Basilika entfernt eröffnet sich eine völlig andere Welt. Der Stadtwald Werl mit seinem kürzlich eröffneten Niedrigseilgarten repräsentiert die moderne Seite der Stadt. Seit Juni 2023 bieten Balancierstationen, Kletterwege und Ruhezonen eine überraschende Ergänzung zum religiösen Erlebnis.
Diese Kombination erinnert mich an die Balance zwischen Tradition und Innovation, wie ich sie auch im hessischen Heilbad mit seiner 650-jährigen Kurgeschichte erlebt habe. Während dort körperliche Heilung im Mittelpunkt steht, bietet Werl eine spirituelle Dimension, ergänzt durch Naturerlebnisse.
Authentischer als Lourdes, ruhiger als Kevelaer
Was Werl von internationalen Wallfahrtsorten wie Lourdes unterscheidet, ist seine Authentizität. Keine überteuerten Souvenirshops säumen die Straßen, keine Massentouristen drängen sich durch die Gassen. Stattdessen findet man hier eine westfälische Gelassenheit, die selbst in der Hochsaison spürbar bleibt.
Die fruchtbare Werl-Unnaer Börde, eine der ertragreichsten Ackerbauregionen Deutschlands, umgibt die Stadt wie ein grüner Mantel. Goldene Weizenfelder und blühender Raps schaffen eine fast mediterrane Stimmung – die westfälische Version der Toskana, wie mir ein Einheimischer schmunzelnd erklärt.
„Die Leute kommen für das Gnadenbild, bleiben aber wegen der Ruhe. Anders als in den großen Wallfahrtsorten kannst du hier noch deinen Gedanken nachhängen, ohne von Menschenmassen gestört zu werden.“
Diese Ruhe ist besonders wertvoll in einer Zeit, in der viele historische Städte unter Overtourism leiden. Während in Halberstadt das längste Musikstück der Welt Besucher anzieht, verbindet Werl mittelalterliche Pilgertraditionen mit modernem Naturerleben – und das ohne Touristenmassen.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zeitpunkt für einen Besuch ist früh morgens oder nach 16 Uhr, wenn die Tagesbesucher abreisen. Parken Sie kostenlos am Marktplatz und beginnen Sie Ihre Erkundung mit dem bronzenen Stadtmodell vor der Basilika – ein taktiles Erlebnis, das die Stadtstruktur fühlbar macht.
Nehmen Sie sich Zeit für das Forum der Völker, ein überraschendes ethnologisches Museum mit über 10.000 Exponaten aus aller Welt. Die meisten Besucher übersehen dieses Juwel, obwohl es nur 5 Gehminuten von der Basilika entfernt liegt.
Für Naturliebhaber bietet der Stadtwald mit seinen Höhenunterschieden von 73 bis 228 Metern überraschend abwechslungsreiche Wanderwege. Im Sommer 2025 finden hier erstmals geführte Waldbaden-Workshops statt – eine perfekte Ergänzung zum spirituellen Erlebnis in der Stadt, ähnlich wie in brandenburgischen Orten mit Naturschutzgebieten, wenn auch in kompakterer Form.
Als ich am Abend durch die Altstadt schlendere, erblicke ich eine Gruppe junger Pilger, die auf dem Weg zum Stadtwald sind – Rucksäcke auf dem Rücken, Gebetbücher in der Hand. Diese Verschmelzung von spiritueller Suche und Naturverbundenheit scheint der neue Trend für 2025 zu sein. „Slow Pilgrimage“ nennen es die Einheimischen – eine entschleunigte Form des Pilgerns, die Meditation und Aktivurlaub vereint.
Meine Frau Sarah würde hier perfekte Fotomotive finden: das goldene Abendlicht auf der Basilika, die sanften Hügel der Börde und die versteckten Pfade im Stadtwald. Werl ist wie ein gut gehütetes Geheimnis, das darauf wartet, entdeckt zu werden – nicht mit lauten Attraktionen, sondern mit einer stillen Einladung zur Entschleunigung.