Ich stehe auf der Roten Brücke und blicke auf eine Szene, die mich sofort verstummen lässt. Vor mir erstreckt sich eine malerische Altstadt, die zu 90% aus historischen Gebäuden besteht – ein architektonischer Schatz, der von nur 12.300 Einwohnern geteilt wird. Wasserburg am Inn, 70 km südöstlich von München, liegt wie ein mediterranes Juwel auf einer natürlichen Halbinsel, die zu sieben Achteln vom türkisfarbenen Inn-Fluss umschlossen wird. Das Mysterium dieser Stadt liegt nicht in verborgenen Schätzen, sondern in der Frage, wie ein so außergewöhnlicher Ort dem internationalen Tourismus entgehen konnte.
Bayerische Toskana: 12.300 Einwohner teilen sich 428 historische Gebäude
Die Zahlen sind verblüffend. Während im berühmten Hallstatt auf 780 Einwohner täglich bis zu 10.000 Touristen kommen, begegne ich in Wasserburgs Gassen nur einer Handvoll Besucher. Der Brucktor, ein imposantes Stadttor aus dem 15. Jahrhundert, begrüßt mich mit einem versteckten Wandgemälde von 1568.
Ich schlendere durch die Laubengänge – überdachte Arkaden, die mir angenehmen Schatten spenden. Die pastellfarbenen Fassaden strahlen in der Julisonne und erinnern stark an Burano in Italien, aber mit unverkennbar bayerischem Charakter. Diese architektonische Symbiose ist kein Zufall: Der sogenannte Inn-Salzach-Stil mit seinen hohen, schmalen Giebelhäusern entwickelte sich durch venezianische Handelsbeziehungen, erzählt mir ein lokaler Historiker.
Am Marktplatz betrachte ich das Rathaus (1457-1459) mit seinem versteckten Erker und das Kernhaus, dessen barocke Stuckfassade mit genau 217 separaten Stuckelementen verziert ist. „A Pracht is des“, würde man auf Bayerisch sagen – eine wahre Pracht, die ich sonst nirgendwo in Deutschland in dieser Dichte gesehen habe.
„Man kann hier noch durch mittelalterliche Gassen schlendern und in einem Café unter Laubengängen sitzen, ohne Selfie-Sticks ausweichen zu müssen. Die Authentizität, die Hallstatt und Rothenburg längst verloren haben, ist hier noch spürbar.“
Der Vergleich mit anderen historisch bedeutsamen deutschen Städten drängt sich auf. Während Touristenbusse Rothenburg ob der Tauber mit jährlich über einer Million Besuchern überfluten, kann ich hier noch authentisches bayerisches Leben erleben.
Die verborgene Geschichte einer mächtigen Handelsstadt
Wasserburgs Reichtum gründete sich auf dem lukrativen Salzhandel. Als Knotenpunkt auf der historischen Salzstraße zwischen dem österreichischen Hallstatt und der Nordsee gelangte die Stadt zu beträchtlichem Wohlstand. Ähnlich wie andere historische Handelsorte in Deutschland profitierte Wasserburg von seiner strategischen Lage.
Besonders faszinierend: Die Stadt beherbergt den ältesten kontinuierlich stattfindenden Markt Bayerns – seit 1339 wird auf der Hofstatt gehandelt. Als ich über das Kopfsteinpflaster gehe, stelle ich mir vor, wie Händler hier seit fast 700 Jahren ihre Waren feilbieten.
Die architektonische Vielfalt Wasserburgs überrascht mich immer wieder. Während Bamberg mit seinen 2.400 historischen Gebäuden für seine fränkische Architektur bekannt ist, vereint Wasserburg am Inn bayerische Tradition mit mediterranen Einflüssen zu einem einzigartigen Ensemble.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zugang zur Altstadt erfolgt über den kostenlosen Parkplatz P2 am Kellerberg, von wo aus Sie in 5 Minuten zu Fuß das Brucktor erreichen. Alternativ hält der RVO-Bus 9402 (Rosenheim-Kufstein) am Stadtrand – ein Geheimtipp, der im Vergleich zum Parkplatzshuttle günstiger ist.
Besuchen Sie Wasserburg am frühen Morgen (vor 8 Uhr) oder am späten Nachmittag (nach 17 Uhr), wenn das Licht die pastellfarbenen Fassaden besonders malerisch erstrahlen lässt. Die Laubengänge bieten dann nicht nur architektonischen Genuss, sondern auch eine willkommene Abkühlung um bis zu 3°C gegenüber der Umgebung.
Kulinarisch sollten Sie unbedingt den Wasserburger Rostbraten probieren – ein lokales Gericht mit Kräutern aus dem Alpenvorland. Für ein authentisches Erlebnis empfehle ich die kleinen Cafés unter den Laubengängen, wo Sie auch den Wasserburger Dialekt mit Ausdrücken wie „i steht auf“ (ich gehe) erleben können.
Im Sommer 2025 sind besonders die wöchentlichen Märkte auf der Hofstatt einen Besuch wert. Hier finden Sie regionaltypisches Kunsthandwerk aus einer Stadt, in der 15% der Bevölkerung im kreativen Sektor tätig sind – eine der höchsten Dichten in Bayern.
Als ich mit meiner Frau Sarah und unserer Tochter Emma über den Kellerberg zurück zum Auto gehe, blicken wir noch einmal auf die von der Abendsonne angestrahlte Altstadt. Wasserburg am Inn ist wie ein perfekt erhaltenes Puzzle aus Geschichte, Kultur und Natur – ein Stück Italien in Bayern, das noch darauf wartet, seine Geschichte mit der Welt zu teilen. Aber vielleicht ist genau das sein größter Schatz: die Stille abseits der ausgetretenen Pfade.