Ich stehe in ehrfürchtigem Schweigen vor dem gigantischen Speyerer Dom, dessen Türme sich gegen den herbstlichen Abendhimmel abzeichnen. Was die meisten Besucher Deutschlands nicht wissen: In dieser unscheinbaren 51.000-Einwohner-Stadt am Rhein liegen acht deutsche Kaiser und Könige begraben – mehr als in fast jeder anderen europäischen Kathedrale. Der Dom zu Speyer ist nicht nur die größte erhaltene romanische Kirche der Welt, sondern auch ein Portal in eine Zeit, als diese kleine Stadt das Machtzentrum des Heiligen Römischen Reiches war.
Acht Kaiser unter einem Dach: Europas größte Herrschergruft
Der kolossale Dom überragt die beschauliche Stadt mit einer monumentalen Präsenz, die selbst Westminster Abbey in den Schatten stellt. In seiner unterirdischen Krypta ruhen vier Kaiser und vier Könige der salischen und staufischen Dynastien, darunter Kaiser Konrad II., der den Bau 1030 begann.
Die Krypta selbst ist ein architektonisches Wunder – mit 42 Kreuzgewölben und 20 Säulen ist sie die größte romanische Säulenhalle Europas. Während ich durch die kühlen, stillen Gänge wandere, wird mir bewusst: Diese fast 1000 Jahre alte Anlage ist praktisch unverändert geblieben – ein direktes Portal ins mittelalterliche Europa.
Meine Hand gleitet über den kalten Stein einer Säule, und ich stelle mir vor, wie die gleiche Oberfläche einst die Hände mittelalterlicher Kaiser berührte. Die Dimensionen des Doms sind beeindruckend: 134 Meter lang, 33 Meter breit, das Mittelschiff erreicht eine Höhe von 33 Metern – nach der Zerstörung der Abtei von Cluny die größte erhaltene romanische Kirche weltweit.
Während das sächsische Meißen mit seinem kostbaren Porzellangeheimnis glänzt, bewahrt Speyer ein anderes Erbe von Weltrang – die größte Konzentration kaiserlicher Geschichte in Deutschland.
Doppeltes UNESCO-Welterbe in einer mittelgroßen Stadt
Was Speyer wirklich einzigartig macht: Diese Stadt mit nur 51.000 Einwohnern beherbergt zwei UNESCO-Welterbestätten. Neben dem Dom (UNESCO seit 1981) wurde 2021 auch das jüdische Erbe der SchUM-Stätten in die Welterbeliste aufgenommen.
„Wir haben in einer Stunde mehr authentische deutsche Geschichte erlebt als in zwei Tagen Neuschwanstein. Keine Menschenmassen, keine Warteschlangen – nur pure Geschichte zum Anfassen.“
Der mittelalterliche Judenhof mit seiner beeindruckenden Mikwe (rituelles Bad) aus dem 12. Jahrhundert zeugt von einer Zeit, als Speyer zusammen mit Worms und Mainz eines der bedeutendsten jüdischen Zentren Europas war. Diese sogenannten SchUM-Gemeinden revolutionierten jüdisches Leben und Lernen im Mittelalter.
Während Höxter mit seinem 1203 Jahre alten UNESCO-Welterbe fasziniert, bietet Speyer eine einzigartige Kombination christlicher und jüdischer Geschichte auf engstem Raum.
Meine Frau Sarah, die als Fotografin die Lichtwirkung liebt, ist begeistert vom warmen Herbstlicht, das die honigfarbenen Sandsteinfassaden des Doms zum Leuchten bringt. „Perfekte Bedingungen“, flüstert sie, während unsere Tochter Emma ehrfürchtig die gewaltigen Säulen bestaunt.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zeitpunkt für einen Besuch des Doms ist morgens vor 10 Uhr oder nachmittags nach 15 Uhr, wenn Busreisegruppen meist verschwunden sind. Parken Sie kostenlos am Festplatz und spazieren Sie 10 Minuten durch die charmante Altstadt zum Dom.
Verpassen Sie nicht die SchUM-Kulturtage im November 2025 – ein einzigartiges Festival, das jüdisches Erbe mit modernen Interpretationen verbindet. Die Veranstaltungen finden an historischen Orten statt und bieten einen tiefen Einblick in die jüdische Geschichte der Region.
Planen Sie unbedingt einen Abstecher ins nahe gelegene Heidelberg ein, wo Deutschlands älteste Universität seit 1386 auf Besucher wartet – ideal für eine kombinierte Kulturtour durch die Region.
Während ich ein letztes Mal zum Dom aufblicke, wird mir klar: Was diese Stadt besonders macht, ist nicht nur ihre historische Bedeutung, sondern auch ihre Authentizität. Hier gibt es kein Disneyland-Mittelalter, sondern echte Geschichte zum Anfassen. In einer Zeit, in der Overtourism viele Reiseziele überschwemmt, bleibt Speyer ein ruhiger Ort der Besinnung – ein kaiserliches Geheimnis, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
