Ich bin gerade durch die mittelalterlichen Straßen von Görlitz geschlendert, als sich vor mir plötzlich eine filmreife Kulisse öffnet. Ich stehe mitten auf dem historischen Untermarkt, umgeben von über 4.000 denkmalgeschützten Gebäuden auf gerade einmal 67 Quadratkilometern. Während die Morgensonne die Renaissancefassaden in goldenes Licht taucht, muss ich zweimal hinsehen – war das nicht die Kulisse aus „The Grand Budapest Hotel“? Tatsächlich hat diese Stadt mit nur 57.437 Einwohnern in den letzten 10 Jahren als Drehort für mehr als 50 internationale Filmproduktionen gedient. Willkommen in „Görliwood“, Deutschlands bestgehütetes Architekturgeheimnis.
Görliwood: Wo Hollywood und mittelalterliche Gassen aufeinandertreffen
Die meisten Besucher bleiben wie angewurzelt stehen, wenn sie das erste Mal das imposante Jugendstilkaufhaus von 1913 erblicken. Unter seiner prächtigen Glaskuppel drehte Wes Anderson Schlüsselszenen für seinen oscarprämierten Film. Das Erstaunliche: Während Dresdens barocke Pracht jährlich Millionen Touristen anzieht, bleibt Görlitz trotz seiner Filmpräsenz vergleichsweise unentdeckt.
Als ich durch die kopfsteingepflasterten Gassen wandere, passiere ich Kulissen aus „Inglourious Basterds“, „The Reader“ und „Around the World in 80 Days“. Die Stadt hat sich als kostengünstige Alternative zu Prag und Paris etabliert, mit einem einzigartigen Vorteil: 80% der historischen Altstadt sind original erhalten und unverändert.
„Manchmal wache ich morgens auf und finde meine Straße komplett ins 19. Jahrhundert zurückversetzt“, erzählt mir ein Anwohner. „Gestern waren es Pferdekutschen, heute Filmscheinwerfer und morgen gehört die Stadt wieder uns.“
Die Magie von Görlitz liegt darin, dass Hollywood kommt und geht, aber die authentische Schönheit der Stadt bleibt unverändert. Anders als in Filmstädten, die von Touristenmassen überlaufen werden, kann man hier noch allein durch eine Filmkulisse spazieren und sich wie der Hauptdarsteller fühlen.
4.000 Denkmäler auf 67 km²: Europas besterhaltenes Architektur-Ensemble
Während Pirna durch Canalettos Pinsel berühmt wurde, erlangt Görlitz durch moderne Filmkameras Weltruhm. Die architektonische Dichte ist atemberaubend: Vom gotischen Reichenbacher Turm über den Schönhof (ältester Renaissance-Profanbau nördlich der Alpen) bis zum barocken Biblischen Haus mit seinen detaillierten Fassadenreliefs.
Was Görlitz besonders macht: Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört. Im Gegensatz zu Český Krumlov, das ähnlich gut erhalten aber mit 1,7 Millionen Touristen jährlich überlaufen ist, begegnen mir hier hauptsächlich Einheimische und nur vereinzelt Besucher.
Am Obermarkt, dem mit 250 Metern Länge größten Platz der Altstadt, fotografiert Sarah die prächtigen Fassaden, während ich mit einem Handwerker ins Gespräch komme. Er restauriert gerade einen Renaissance-Erker und berichtet, dass die Stadt kontinuierlich in die Sanierung investiert – ein Grund, warum Filmteams aus aller Welt hierher kommen.
Die Stadt der Doppelidentität: Deutsch-polnisches Kulturerbe ohne Grenzen
Görlitz hat noch ein weiteres Geheimnis: Es ist eigentlich nur eine halbe Stadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie durch die Neiße geteilt, und der östliche Teil gehört heute zu Polen und heißt Zgorzelec. Ähnlich wie Frankfurt (Oder) an der deutsch-polnischen Grenze profitiert Görlitz von diesem kulturellen Austausch.
Auf der „Brücke der Freundschaft“ stehend, blicke ich auf beide Seiten der europäischen Geschichte. Links deutsches Brot, rechts polnische Piroggen – diese kulturelle Dualität prägt den Alltag. Die slawische Tradition ist hier ähnlich präsent wie in Bautzen mit seiner sorbischen Kultur, wenn auch mit polnischem Einschlag.
Besuchstipp 2025: Filmkulisse erkunden bevor Influencer-Massen folgen
Besuchen Sie Görlitz am besten frühmorgens vor 9 Uhr oder am späten Nachmittag nach 16 Uhr, wenn selbst die wenigen organisierten Touristengruppen verschwunden sind. Parkplätze finden Sie kostenfrei am Parkplatz Stadtpark, nur 10 Gehminuten vom Untermarkt entfernt.
Der beste Aussichtspunkt: Steigen Sie die 191 Stufen des Rathausturms hinauf (Führungen von Mittwoch bis Sonntag, 11-18 Uhr). Von hier oben verstehen Sie sofort, warum Görlitz als kompaktestes Architekturmuseum Europas gilt. Während Freiberg 550 Denkmäler bewahrt, übertrifft Görlitz diese Zahl mit über 4.000 geschützten Objekten.
Hinter mir hält Emma aufgeregt ihre Kamera hoch. „Papa, das ist genau wie im Film!“ ruft sie begeistert und zeigt auf das Jugendstilkaufhaus. Als erfahrener Reisender habe ich selten einen Ort gesehen, der Geschichte und Gegenwart so nahtlos verbindet. Görlitz ist wie ein prächtiges Buch, das zwischen zwei Deckeln – Deutschland und Polen – eine Geschichte erzählt, die selbst Hollywood nicht besser hätte schreiben können.