Ich stehe auf der historischen Marktstraße von Bad Tölz und bin sofort überwältigt. Diese 19.812-Einwohner Stadt versteckt ein architektonisches Wunder, das ich in 15 Jahren Reisejournalismus selten gesehen habe. Die Häuserzeile vor mir – mit kunstvollen Lüftlmalereien und prächtigen Fassaden – verdankt ihr harmonisches Erscheinungsbild dem Genie eines einzigen Mannes. Als ich die 658 Meter hoch gelegene bayerische Kleinstadt erreichte, ahnte ich nicht, dass ich einen der am perfektesten gestalteten Stadträume Europas betreten würde.
Die Stadt, die einem Mann ihr Gesicht verdankt: Gabriel von Seidls alpine Revolution
Zwischen 1900 und 1910 verwandelte der Architekt Gabriel von Seidl die Marktstraße von Bad Tölz in ein einheitliches Meisterwerk alpiner Stadtarchitektur. Was mich verblüfft: Über 80% der Gebäude stammen ursprünglich aus dem 15. bis 18. Jahrhundert, wurden aber von Seidl umgestaltet und harmonisiert.
Mit bloßem Auge erkenne ich die sanft geschwungene Straße, die von farbenprächtigen Fassaden gesäumt wird. Das Besondere: Seidl schuf hier keinen künstlichen Themenpark, sondern verwandelte eine gewachsene Stadtstruktur in den sogenannten „schönsten Festsaal des Oberlandes“.
Während in Miltenberg mit seinen fotogenen Fachwerkbauten jedes Gebäude individuell entwickelt wurde, erschuf Seidl hier ein Gesamtkunstwerk aus dem Bestand. Die Marktstraße fällt leicht ab und öffnet sich zum Fluss – ein städtebaulicher Effekt, der mich an italienische Piazzas erinnert, jedoch mit unverkennbar bayerischem Charakter.
Warum Bad Tölz authentischer als das überlaufene Hallstatt bleibt
Anders als im österreichischen Hallstatt, das von bis zu 10.000 Touristen täglich überschwemmt wird, bewahrt Bad Tölz eine spürbare Authentizität. Die Marktstraße dient nicht als Fotokulisse, sondern als lebendiges Zentrum für die Einheimischen.
Die Lüftlmalerei – eine traditionelle Fassadenkunst – zeigt religiöse und weltliche Szenen, die im spätsommerlichen Licht besonders eindrucksvoll zur Geltung kommen. Anders als in kulturreichen Weimar konzentriert sich hier alles auf engem Raum.
„Jeden Morgen beim Brötchenholen blicke ich auf diese Fassaden und entdecke immer wieder neue Details. Selbst nach 30 Jahren fühlt es sich nicht selbstverständlich an – wir leben in einem lebendigen Museum, aber eines, in dem echtes Leben stattfindet.“
Was mich am meisten überrascht: Die harmonische Marktstraße diente als Kulisse für die bekannte TV-Serie „Der Bulle von Tölz“ – doch 99% der Zuschauer wissen nicht, dass sie eine von einem einzigen Architekten kuratierte Stadtlandschaft sehen.
Im Gegensatz zu Ostseeorten mit extremen saisonalen Besucherzahlen bleibt Bad Tölz das ganze Jahr über von übermäßigem Tourismus verschont. Bei meinem Spaziergang begegne ich mehr Einheimischen als Besuchern – ein seltenes Privileg in einer Zeit überfüllter Instagram-Hotspots.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zeitpunkt für einen Besuch der Marktstraße ist der frühe Morgen oder späte Nachmittag im Spätsommer. Das Licht taucht die Fassaden dann in ein warmes Goldgelb, wodurch die Lüftlmalereien besonders plastisch wirken.
Parken Sie am besten am P3 Bockschützparkplatz (kostenlos bis zu 3 Stunden), nur 5 Gehminuten von der Marktstraße entfernt. Ein lokales Geheimnis: Das unscheinbare Café Ziegler in der Marktstraße 55 serviert die authentischste Tölzer Dampfnudel – ein traditionelles Gebäck, das Sie nirgendwo sonst so finden.
Nach der Erkundung der Marktstraße empfehle ich einen Abstecher zum Kalvarienberg. Der 15-minütige Aufstieg belohnt mit einem spektakulären Panoramablick über die Stadt und das Isartal – die perfekte Perspektive, um Seidls städtebauliche Vision zu erfassen.
Als ich Bad Tölz verlasse, denke ich an etwas, das meine Frau Sarah immer sagt: Wahre Schönheit entsteht nicht durch Zufall, sondern durch Vision. Wie Gabriel von Seidl vor über einem Jahrhundert bewies, kann eine einzelne Person mit klarer Vorstellung einen ganzen Ort transformieren. Im Gegensatz zu vielen überlaufenen Touristenzielen fühlt sich Bad Tölz an wie ein gut gehütetes Familiengeheimnis – eines, das ich fast zögere zu teilen, aus Sorge, es könnte seinen authentischen Zauber verlieren.