Dieses Sachsen-Anhalt Städtchen von 9.414 Einwohnern verbirgt 40 Jahre unberührte Grenzlandschaft

Es ist kaum zu glauben, dass ich jetzt hier stehe, umgeben von tiefgrünem Wald und absoluter Stille. Vor mir öffnet sich der Blick auf Ilsenburg, eine Harzgemeinde mit gerade einmal 9.414 Einwohnern, die ein Naturwunder der besonderen Art verbirgt. Ich bin heute Morgen bei Sonnenaufgang angekommen, als der Nebel noch zwischen den Bäumen hing und die ersten Vögel zu zwitschern begannen. Was diesen Ort so einzigartig macht? Hier entstand durch die 40-jährige Teilung Deutschlands unbeabsichtigt ein ökologisches Paradies, das bis heute nahezu unberührt geblieben ist.

Ilsenburgs 40-jähriges Naturwunder: Wo die Geschichte die Ökologie formte

Stellen Sie sich vor: Eine 6 Meter breite Schneise zieht sich durch die Landschaft – das berühmte Grüne Band, einst tödliche Grenze, heute ein lebendiges Naturreservat. Sarah, meine Frau, hat die Kamera kaum aus der Hand gelegt, seit wir hier sind. „Es ist, als fotografiere ich einen Zeitsprung“, flüstert sie mir zu, während wir auf einem der alten Patrouillen-Pfade wandern.

Was Ilsenburg so besonders macht: Auf einer Fläche von 63,08 Quadratkilometern vereint sich hier Geschichte mit Natur auf eine Weise, die man sonst nirgendwo findet. Während ich durch das Unterholz streife, entdecke ich Relikte der Vergangenheit – verrostete Grenzzaunsegmente, überwuchert von seltenem Heidekraut, daneben seltene Orchideenarten, die anderswo längst verschwunden sind.

Als Nationalpark-Gemeinde profitiert Ilsenburg von einer ungewöhnlichen Kombination: 20-30% der Gebäude stehen unter Denkmalschutz, während gleichzeitig über 500 Kilometer markierte Wanderwege durch unberührte Natur führen. Nicht weit entfernt liegt Goslar mit seinen drei UNESCO-Welterbestätten, doch hier in Ilsenburg erlebe ich eine ganz andere, intimere Verbindung zur Landschaft.

9.414 Einwohner bewahren Europas längsten Biotopverbund

In einem kleinen Waldcafé treffe ich auf einen älteren Herrn, der sein Leben lang hier gewohnt hat. Er zeigt mir seine Sammlung historischer Fotos vom Grenzgebiet, manche davon aus den 1970er Jahren, als kein Zivilist diese Bereiche betreten durfte.

„Was die meisten nicht verstehen: Die Grenze war für uns eine Tragödie, aber für die Natur ein Segen. Vierzig Jahre ungestörte Entwicklung haben hier Pflanzen und Tiere zurückgebracht, die wir längst verloren glaubten.“

Er hat recht. Während meiner Recherchen erfuhr ich, dass in diesem schmalen Streifen des Grünen Bandes mehr als 1.200 bedrohte Tier- und Pflanzenarten leben – ein lebendiges Museum der mitteleuropäischen Biodiversität. In der Nähe von Allstedt mit seiner kaiserlichen Geschichte findet man ähnliche historische Tiefe, aber nicht diese einzigartige ökologische Zeitkapsel.

Was mich besonders beeindruckt: Die Gemeinde hat bewusst auf übermäßigen Tourismus verzichtet. Mit einer Bevölkerungsdichte von nur 150 Einwohnern pro Quadratkilometer – ein Drittel des deutschen Durchschnitts – bleibt hier Raum für Natur und Stille. Ein deutlicher Kontrast zu Triberg mit seinen beeindruckenden Wasserfällen, das jährlich 250.000 Besucher empfängt.

Was Naturschützer über das verschwindende Grenzerbe sagen

Am Nachmittag treffe ich eine Rangerin des Nationalparks Harz. Sie führt mich zu einer versteckten Aussichtsplattform mit Blick über das Ilsetal. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Auf der einen Seite die gepflegte Kulturlandschaft, auf der anderen die fast urwaldähnliche Vegetation des ehemaligen Grenzstreifens.

„Das ist unser lebendiges Laboratorium“, erklärt sie, während wir seltene Schwarzspechte beobachten. „Was wir hier sehen, ist Europa vor der Industrialisierung.“ Dieses Zeitfenster, betont sie, könnte sich schließen, wenn der Tourismus unkontrolliert zunimmt. Baabe mit seinem umweltfreundlichen Strand zeigt, wie nachhaltiger Tourismus funktionieren kann.

Sommer 2025: Die ideale Zeit für Ilsenburgs Grenzwanderungen

Für meinen letzten Tag habe ich mir den Harzer Klosterwanderweg vorgenommen. Der beste Zugang erfolgt über den Parkplatz Plessenburg (kostenlos), von wo aus ein gut markierter Pfad durch das Herzstück des Grünen Bandes führt. Besuchen Sie diesen Abschnitt am frühen Morgen vor 9 Uhr, wenn die Vögel am aktivsten sind und Sie die Landschaft für sich haben.

Ein absolutes Highlight für Juli 2025: Der 16. Lesesommer XXL bringt Literaturveranstaltungen in die historischen Klosteranlagen von Ilsenburg und Drübeck. Lokale Geheimtipps sind der Klostergarten Drübeck mit seinen mittelalterlichen Heilpflanzen und die Ilsefälle, die Sie am besten nach einem Regentag besuchen, wenn das Wasser besonders kraftvoll fließt.

Während ich meinen Notizblocz schließe und ein letztes Foto vom Sonnenuntergang über dem Ilsetal mache, denke ich an die Worte des älteren Herrn zurück. Was hier in Ilsenburg geschah, ist wie der Harzer Bergmannsgruß „Glück auf“ – aus etwas Schwerem entstand unerwarteter Segen. Dieses lebende Zeitfenster der Natur, entstanden aus einer schmerzlichen historischen Wunde, verdient unseren Besuch – und unseren Schutz. Kommen Sie bald, denn die Natur hat hier 40 Jahre Vorsprung, aber die Welt holt schnell auf.