Die Dampflok der Selketalbahn kündigt pfeifend meine Ankunft in Alexisbad an. Als ich aussteige, umfängt mich waldige Stille. Vor mir liegt ein winziger Kurort mit nur 42 Einwohnern, versteckt im Selketal des Harzes. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Eine Handvoll Menschen lebt hier, doch die historischen Gebäude erzählen von 250 Jahren Kurtradition und vergangener Pracht. Die Schienen der Selketalbahn schlängeln sich durch das Tal, 20 Kilometer von Quedlinburg entfernt und kaum 3 Stunden von Berlin. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein.
Mit nur 42 Einwohnern: Deutschlands kleinster Kurort mit großer Geschichte
Ich schlendere durch die morgendliche Stille und kann kaum glauben, dass dieser Miniaturort eine so bedeutende Geschichte hat. Seit 1767 sprudelt hier Heilwasser mit Jod, Eisen und Fluor aus ehemaligen Bergbaustollen. Was einst aus dem Davidstollen floss, begründete einen Kurort, der seinen Namen der russischen Prinzessin Alexandra verdankt.
Die Zahlen sind erstaunlich: Während die Einwohnerzahl bei 42 stagniert, beherbergt Alexisbad architektonische Meisterwerke von Karl Friedrich Schinkel, dem preußischen Stararchitekten des 19. Jahrhunderts. Seine Petruskapelle, ursprünglich als Teepavillon konzipiert, thront auf einem Hügel über dem Ort.
„Das ist kein gewöhnlicher Kurort“, erklärt mir ein älterer Herr, der seinen Hund ausführt. „Hier hat Carl Maria von Weber komponiert und Hans Christian Andersen Inspiration gefunden.“ Am 12. Mai 1856 wurde hier sogar der Verein Deutscher Ingenieure gegründet – ein historisches Ereignis in einem Dorf, das heute kaum eine Fußballmannschaft zusammenbekäme.
Architektur-Juwelen zwischen Harztannen: Ein faszinierender Kontrast
Im Morgenlicht wirkt die Petruskapelle besonders eindrucksvoll. Erbaut 1812 bis 1815, steht sie heute für Hochzeiten und Konzerte offen. Die sanften Bögen und klaren Linien Schinkels kontrastieren mit der wilden Natur des Harzes, die den winzigen Ort umgibt.
Während ich durch die beiden historischen Hotels wandere – das Morada-Hotel Alexisbad und das Hotel Habichtstein – denke ich an das österreichische Hallstatt. Beide Orte sind klein und malerisch, doch während Hallstatt unter Touristenmassen ächzt, gehört Alexisbad zu den Geheimtipps, die authentisch geblieben sind.
„Wer hierher kommt, sucht keine Instagram-Hotspots, sondern Ruhe und Geschichte. Manchmal hören wir nur das Rauschen der Selke und das Pfeifen der Dampflok. Diese Stille ist unser größter Schatz.“
In Gernrode, nur 7 Kilometer entfernt, können Liebhaber auch das historische Sachsen-Anhalt entdecken, aber Alexisbad bietet eine Intimität, die größeren Orten fehlt.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zugang zu Alexisbad erfolgt mit der Selketalbahn, die seit 1888 durch das Tal fährt. Parken können Sie kostenfrei am kleinen Bahnhof. Die Schmalspur-Dampflok verbindet den Ort mit Quedlinburg und anderen Harzstädten – ein Erlebnis, das in Wolgast mit seiner historischen Bascule-Brücke ein würdiges Pendant findet.
Besuchen Sie die Köthener Hütte, die von Einheimischen als „schönste Schutzhütte im Harz“ bezeichnet wird. Der Wanderweg dorthin beginnt direkt hinter dem Bahnhof und führt durch märchenhafte Wälder. Am besten kommen Sie früh morgens oder nach 16 Uhr, wenn die wenigen Tagestouristen bereits weg sind.
Für Architekturliebhaber bietet sich ein Abstecher ins nahegelegene Goslar mit seinen UNESCO-Welterbestätten an. Doch im Gegensatz zu Bad Mergentheim mit seiner digital inszenierten Kurgeschichte hat Alexisbad seine Tradition in ursprünglicher Form bewahrt.
Als ich am späten Nachmittag mit der letzten Selketalbahn abreise, denke ich an die Worte eines Bäckers in Ilsenburg, einem weiteren versteckten Juwel mit unberührter Natur: „Der Harz ist wie eine Schatztruhe mit vielen Fächern.“ In dieser Metapher ist Alexisbad sicher einer der kleinsten, aber wertvollsten Edelsteine.
Meine Frau Sarah würde die Petruskapelle lieben – ihre Kamera könnte das Spiel von Licht und Schatten auf Schinkels klaren Linien perfekt einfangen. Vielleicht bringe ich nächstes Jahr meine Familie mit. In einer Welt voller überlaufener Tourismusziele ist Alexisbad eine Zeitkapsel, die beweist, dass wahre Schönheit nicht gemessen wird an Einwohnerzahlen oder Instagram-Hashtags, sondern an der Tiefe ihrer Geschichte und der Stille ihrer Gegenwart.