Die Abendsonne streift über rote Backsteinmauern, als ich die Stadtgrenze von Osterwieck überschreite. Vor mir entfaltet sich ein Panorama aus über 400 Fachwerkhäusern auf gerade mal 11.000 Einwohner – das entspricht einem historischen Gebäude für je 27 Einheimische. Doch das wahre Geheimnis dieser 1035 Jahre alten Stadt in Sachsen-Anhalt entdecke ich erst beim zweiten Blick: Hinter den mittelalterlichen Fassaden verbirgt sich ein Zentrum für Hightech-Fertigung, das weltweit patentierte Elektromotoren produziert.
Am rechten Ufer der Ilse gelegen, nur 25 Kilometer nördlich von Wernigerode, wartet Osterwieck auf Entdecker, die den touristischen Trampelpfaden entfliehen wollen. Während meine Frau Sarah Aufnahmen der unberührten Fachwerkensembles macht, bemerkt sie erstaunt: „Es fühlt sich an wie Quedlinburg, nur ohne die Touristenmassen.“
Sachsen-Anhalts bestgehütetes Fachwerkgeheimnis: 400+ Häuser auf nur 11.000 Einwohner
Ich schlendere durch gepflasterte Gassen, die sich zwischen Häusern aus sechs Jahrhunderten schlängeln. Jedes Gebäude erzählt seine Geschichte – von gotischen Anfängen über Renaissance-Schnitzereien bis zu barocken Verzierungen. Die Fachwerkdichte übertrifft sogar die vieler berühmterer Städte.
Das Rathaus von 1554 beherbergt eine architektonische Rarität: eine spindellose Wendeltreppe, die sich elegant nach oben schraubt. Während Weimar mit seiner europaweit höchsten Kulturdichte internationale Besucher anzieht, bleibt Osterwieck ein Geheimtipp für Kenner.
Im ältesten Gebäude der Stadt, erstmals 1265 urkundlich erwähnt, entdecke ich das Heimatmuseum. Der Kurator zeigt mir stolz ein kurioses Exponat: Ledergeld aus der Inflationszeit. Daneben thront ein imposanter Kachelofen aus Meißner Keramik, der von lokalen Handwerkern restauriert wurde.
Der verblüffende Kontrast: 1035 Jahre Geschichte trifft auf Hightech-Innovation
Was Osterwieck wirklich einzigartig macht, ist der unerwartete Kontrast. Am Stadtrand führt mich ein Ingenieur durch eine moderne Fabrikhalle, wo Präzisions-Elektromotoren für den Weltmarkt gefertigt werden. „Unsere Motoren stecken in Geräten auf allen Kontinenten,“ erklärt er, während komplexe Maschinen surrend arbeiten.
Ähnlich wie Jena mit seinem dienstältesten Planetarium der Welt verbindet Osterwieck Tradition mit Innovation. Der nahegelegene Windpark Druiberg erzeugt saubere Energie und zieht Fachbesucher aus aller Welt an.
„Morgens fotografiere ich tausendjährige Fachwerkhäuser, nachmittags bestaune ich Windkrafttechnologie der Zukunft. Wo sonst kann man diese Zeitreise an einem Tag erleben?“
Diese Symbiose aus Alt und Neu macht Osterwieck zu einer Blaupause für nachhaltige Stadtentwicklung im ländlichen Raum. Während die historische Stadtmauer die Altstadt umschließt, ähnlich wie Templins vollständig erhaltene mittelalterliche Stadtmauer, schafft die lokale Wirtschaft Arbeitsplätze, die junge Menschen in der Region halten.
Die Perle der Straße der Romanik: Sankt Stephani und das spirituelle Erbe
Am nächsten Morgen betrete ich die Sankt Stephani Kirche, deren Ursprünge bis zu Karl dem Großen zurückreichen. Der massive Bau aus dem 12. Jahrhundert beeindruckt mit seiner romanischen Architektur und bildet einen Kontrast zum filigran verzierten Fachwerk ringsum.
Als Teil der „Straße der Romanik“ verbindet sich Osterwieck mit einem kulturhistorischen Netzwerk. Während Torgau mit der weltweit ersten protestantischen Kirche bekannt wurde, beeindruckt Osterwieck mit seinen romanischen Wurzeln und einer bemerkenswerten Kontinuität religiösen Lebens.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zugang erfolgt über die B79 von Halberstadt, mit kostenlosem Parken am Stadtrand. Besuchen Sie Osterwieck am frühen Morgen, wenn goldenes Licht die Fachwerkbalken dramatisch in Szene setzt – ideal für Fotografen wie meine Frau Sarah.
Für ein authentisches Erlebnis empfehle ich das Café im alten Rathaus, das hausgemachte Harzer Spezialitäten serviert. Die lokalen Handwerker öffnen ihre Werkstätten oft für spontane Besucher – einfach anklopfen und fragen. Eine Seltenheit in Zeiten von Massentourismus.
Nach drei Tagen in Osterwieck verstehe ich, warum diese Stadt für mich als Reisejournalist ein wahres Juwel darstellt. Sie vereint alles, was ich an versteckten Perlen liebe: authentische Geschichte ohne Kommerzialisierung, überraschende Kontraste und Menschen, die ihre Heimat mit Stolz und Innovation bewahren.
Während meine Tochter Emma begeistert mit einem traditionellen Holzspielzeug spielt, das ein lokaler Schreiner ihr geschenkt hat, wird mir klar: Osterwieck ist wie ein gut gehütetes Familienrezept – zu kostbar, um es an die große Glocke zu hängen, aber zu wertvoll, um es nicht weiterzugeben. Besuchen Sie es, bevor der Rest der Welt es entdeckt.