Ich stehe vor dem Hexenturm in Rüthen, während der Herbstnebel über die mittelalterliche Stadtmauer kriecht. Was mich hier erschüttert: Von 102 Menschen, die in diesem unscheinbaren Ort der Hexerei beschuldigt wurden, überlebten nur zwei die brutalen Verhöre. Noch erstaunlicher: Fast die Hälfte der Opfer waren Männer – ein Detail, das unsere moderne Vorstellung von Hexenverfolgung vollkommen auf den Kopf stellt.
Rüthen, eine Kleinstadt mit heute 10.316 Einwohnern im östlichen Nordrhein-Westfalen, liegt versteckt im waldreichen Sauerland. Kaum ein Tourist verirrt sich hierher, obwohl dieser Ort eines der besterhaltenen Zeugnisse europäischer Hexenverfolgung beherbergt – nur 90 Minuten östlich von Dortmund.
102 Angeklagte, 100 Tote: Rüthens erschütternde Hexenprozesse
Der aus dem 14. Jahrhundert stammende Hexenturm – ursprünglich „Allagener Turm“ genannt – wurde aus lokalem Rüthener Grünsandstein erbaut. Während die Friedland mit seinen historischen Schätzen erst in jüngerer Zeit touristisch erschlossen wurde, bewahrt Rüthen seit Jahrhunderten seine dunkle Geschichte.
Als ich durch die niedrige Steinpforte trete, umfängt mich sofort die klamme Kälte des Innenraums. An den Wänden hängen originale Folterinstrumente – keine Nachbildungen für Touristen. Eine Daumenschraube, eine lange eiserne Folterzange und ein Richtschwert zeugen von der grausamen Realität der Hexenprozesse.
Im Boden sind beleuchtete Infotafeln eingelassen, die die Namen und Schicksale der Angeklagten dokumentieren. Sarah fotografiert die bedrückende Szenerie, während ich die Listen studiere. Die Todesrate von 98 Prozent übertrifft selbst die berüchtigten Salem-Hexenprozesse in Massachusetts, wo „nur“ 20 Menschen hingerichtet wurden.
Ein einzigartiger Fall europäischer Hexenverfolgung
Was Rüthen von anderen historischen Hexenverfolgungsorten unterscheidet: Hier waren 50 Prozent der Opfer Männer. Dies widerlegt das populäre Narrativ, dass hauptsächlich Frauen verfolgt wurden. Während Hameln mit seiner Rattenfängerlegende weltweit bekannt ist, bleibt Rüthens authentische, düstere Geschichte weitgehend unentdeckt.
„Die Hexenprozesse in Rüthen waren besonders grausam. Die meisten Angeklagten legten unter Folter Geständnisse ab, bevor sie auf dem Scheiterhaufen endeten. Der hohe Anteil männlicher Opfer macht diesen Ort zu einem einzigartigen historischen Zeugnis, das unsere Vorstellung von Hexenverfolgung neu definiert.“
Der zweigeschossige Turm steht in der südwestlichen Ecke der 3 Kilometer langen mittelalterlichen Stadtmauer. Von den kleinen Schießscharten aus schweift mein Blick über den Naturpark Arnsberger Wald – ein paradoxer Kontrast zwischen idyllischer Landschaft und dem Grauen, das sich hier abspielte.
Während Monschau mit seinen 330 Fachwerkhäusern von Touristen überrannt wird, gehört Rüthen zu den wenigen Orten in Deutschland, wo Geschichte in ihrer unverfälschten, manchmal unbequemen Form erfahrbar bleibt.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der Hexenturm ist kostenlos zugänglich, öffnet aber nur auf Anfrage – kontaktieren Sie das Stadtmarketing mindestens zwei Tage vor Ihrem Besuch. Parken Sie am besten am Marktplatz und folgen Sie der Beschilderung zum Hexenturm, etwa 400 Meter entfernt.
Besuchen Sie den Turm im Herbst, wenn die nebligen Morgen eine authentische mittelalterliche Atmosphäre schaffen. Im Gegensatz zu Brilon mit seinem beeindruckenden Stadtwald bietet Rüthen mit seinen 4.000 Hektar Wald zusätzlich zur Natur ein tiefes Eintauchen in eine der dunkelsten Epochen europäischer Geschichte.
Kombinieren Sie Ihren Besuch mit einer zweistündigen Stadtführung (€8 pro Person), die Sie durch die mittelalterliche Altstadt führt. Besuchen Sie auch den Wasserturm, der eine 360-Grad-Aussicht vom 29 Meter hohen Aussichtspunkt bietet.
Als ich mit Emma auf der alten Stadtmauer entlanglaufe, erkläre ich ihr behutsam die Geschichte dieses Ortes. Rüthen wirkt wie ein Märchenort aus den Grimmschen Erzählungen, doch bewahrt es eine historische Realität, die grausamer ist als jedes Märchen. In einer Welt, wo Geschichte oft für Touristen aufbereitet und entschärft wird, steht der Hexenturm als stiller Zeuge einer Zeit, die wir nicht vergessen sollten. Er ist ein Ort, der zum Nachdenken anregt – über Vorurteile, Massenhysterie und die dunklen Kapitel menschlicher Gemeinschaften.