Dieses hessische Dorf von 6.045 Einwohnern versteckt 70 Prozent Fachwerkhäuser und begehbaren Wehrturm

Ich stehe auf dem uralten Kopfsteinpflaster Spangenbergs, umgeben von schiefen Fachwerkhäusern, deren dunkle Balken im Morgenlicht glänzen. Mit nur 6.045 Einwohnern bewahrt diese hessische Kleinstadt ein mittelalterliches Erbe, das selbst Rothenburg ob der Tauber in seiner Dichte übertrifft. Hier gibt es ein Denkmal pro 86 Einwohner – eine der höchsten historischen Dichten Hessens. Doch das wahre Geheimnis liegt in der ungewöhnlichen Kombination: Ein vollständig sanierter, begehbarer Wehrturm und ein Kunstwanderweg mit 52 Naturkunstwerken koexistieren hier ohne die Touristenmassen, die ähnliche Schätze anderswo überfluten.

Eine Stadt mit 70% historischen Fachwerkhäusern und einem freien Turmschlüssel

Während ich durch die verwinkelten Gassen wandere, fällt mir auf, dass über 70% der Gebäude im Stadtkern historische Fachwerkhäuser sind. Die komplette mittelalterliche Stadtmauer steht noch – ein Seltenheitswert in der Region. Während Esslingen im Süden mit seinen 600 denkmalgeschützten Fachwerkhäusern beeindruckt, bietet Spangenberg im Norden ein intimeres Ensemble mit bemerkenswerter Authentizität.

Der Weg führt mich zum Rathaus, wo ich nach dem Schlüssel zum Eulenturm frage. Die Mitarbeiterin lächelt: „Den geben wir kostenlos aus – Sie müssen ihn nur heute zurückbringen.“ Diese Geste des Vertrauens wäre in touristischen Hochburgen undenkbar. Mit schwerem Eisenschlüssel in der Hand steige ich die ausgetretenen Steinstufen hinauf zum massiven Wehrturm.

Oben angekommen, öffnet sich ein atemberaubendes 270-Grad-Panorama über die sanften Hügel des Essetals. Während Querfurt mit seiner monumentalen Burganlage durch schiere Größe beeindruckt, besticht Spangenberg durch seine strategische Lage auf einem Kalksteinkegel, der jahrhundertelang die Handelsrouten kontrollierte.

Wandern zwischen 52 Naturkunstwerken und mittelalterlicher Geschichte

Am nächsten Morgen erkunde ich den ARS NATURA Pfad, der Spangenberg mit 52 Kunstwerken aus Naturmaterialien umgibt. Diese Verbindung von Tradition und moderner Kunst erinnert mich an Radebeul, wo Literatur und Weinkultur eine einzigartige Symbiose eingehen. Hier jedoch ist es die Begegnung von Fachwerktradition mit zeitgenössischer Naturkunst.

„Man kommt hierher und erwartet eine typische Fachwerkstadt. Dann entdeckt man diese modernen Kunstwerke in der Landschaft und das mittelalterliche Panorama vom Turm – ohne Anstehen, ohne Eintritt. So etwas gibt es sonst nirgendwo in Deutschland.“

Ich folge dem Fernwanderweg X8, der durch Buchenwälder führt und immer wieder überraschende Kunstinstallationen offenbart: Ein Steinlabyrinth neben einem Bach, eine Holzskulptur, die aus einem Baumstumpf erwächst, ein Metallgebilde, das mit der Landschaft zu verschmelzen scheint. Der Weg verbindet sich mit dem X3, einem weiteren Fernwanderweg, der durch die Region führt.

Beim Abstieg vom Schlossberg entdecke ich einen Liebenbachbrunnen, der eine tragische Liebesgeschichte erzählt – die perfekte Kulisse für Fotos im goldenen Abendlicht, wenn die Sonne die dunklen Fachwerkbalken in warme Töne taucht. Am Fuße des Hügels liegt das Waldschwimmbad Wattenbach mit erfrischendem Quellwasser – ideal nach einer Sommerwanderung.

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Für den optimalen Besuch parken Sie kostenlos am Burgsitz und starten Ihre Erkundung früh am Morgen. Der Turmschlüssel ist im Rathaus Montag bis Freitag von 8:00 bis 17:00 Uhr erhältlich – ein Ausweis wird als Pfand hinterlegt. Besuchen Sie den Eulenturm idealerweise gegen 16 Uhr, wenn das Nachmittagslicht perfekte Fotobedingungen schafft.

Für eine vollständige Erkundung hessischer Geheimtipps lässt sich Ihr Besuch in Spangenberg ideal mit einem Abstecher nach Bad Orb verbinden, wo Sie nach den Wanderungen entspannen können. Meine Empfehlung für Spangenberg: Zwei volle Tage einplanen – einen für die Altstadt und den Eulenturm, einen für den Kunstwanderweg.

Als ich Spangenberg verlasse, denke ich an die zahlreichen überlaufenen mittelalterlichen Städte Deutschlands. Meine Frau Sarah hätte die Ruhe der Kunstwanderung geliebt, und unsere Tochter Emma wäre begeistert gewesen, einen echten Turmschlüssel in der Hand zu halten. Spangenberg ist wie ein perfekt erhaltenes mittelalterliches Buch, in das jemand kunstvolle moderne Illustrationen eingefügt hat – und erstaunlicherweise wissen nur wenige, dass es überhaupt existiert. Vielleicht ist genau das sein größter Schatz.