Ich stehe auf dem altehrwürdigen Marktplatz von Wernigerode, während die aufgehende Septembersonne das erste Goldlicht auf die kunstvoll verzierten Fachwerkhäuser wirft. Vor mir erhebt sich das märchenhafte Rathaus, ein architektonisches Wunderwerk aus dem 13. Jahrhundert. Doch was mich wirklich sprachlos macht: In dieser kleinen Stadt mit gerade einmal 32.167 Einwohnern stehen mehr als 1.400 historische Fachwerkhäuser – ein unglaubliches Verhältnis von einem denkmalgeschützten Gebäude pro 23 Einwohner. Ich bin in der Stadt mit der höchsten historischen Gebäudedichte Deutschlands angekommen, einem Ort, den die meisten Touristen links liegen lassen, während sie zu den überlaufenen Instagram-Hotspots pilgern.
Die vergessene UNESCO-Perle mit dem höchsten Fachwerk-pro-Kopf-Verhältnis Deutschlands
Während ich durch die gepflasterten Straßen schlendere, wird mir klar: Über 50% der gesamten Innenstadt steht unter Denkmalschutz. Das ist eine Konzentration, die selbst im fachwerkgesegneten Deutschland ihresgleichen sucht. Besonders beeindruckend: Das Krummelsche Haus aus dem Jahr 1674 mit seiner vollständig geschnitzten Holzfassade – ein handwerkliches Meisterwerk, das mich an aufwendig verzierte Altarschnitzereien erinnert.
Ein ortsansässiger Restaurator erklärt mir, dass die meisten dieser Gebäude in den 1980er Jahren vom Verfall bedroht waren. „Wir haben praktisch die gesamte Stadtgeschichte gerettet“, sagt er nicht ohne Stolz. Besonders faszinierend: Das schiefe Haus, ursprünglich eine Mühle, deren Fundament vom Mühlgraben unterspült wurde. 1680 wurde es mit einer heute noch rätselhaften Technik wieder aufgerichtet – nur um bewusst schief belassen zu werden, als Erinnerung an die Ingenieurskunst der Vorfahren.
Wernigerode vs. Rothenburg: Der authentische Underdog mit Naturbonus
Während Rothenburg ob der Tauber jährlich von über zwei Millionen Touristen überrannt wird, bleibt Wernigerode trotz vergleichbarer architektonischer Schönheit erstaunlich authentisch. Der entscheidende Unterschied: Hier leben noch echte Wernigeröder in ihren historischen Häusern. Der Marktplatz ist kein Freilichtmuseum, sondern lebendiger Mittelpunkt des Stadtlebens.
„Vor zehn Jahren konnte ich mir mein Fachwerkhaus noch leisten. Heute würde ich bei den Preisen in Rothenburg oder Quedlinburg nicht einmal eine Besenkammer bekommen. Hier gibt es noch echtes Leben hinter den schönen Fassaden.“
Was Wernigerode zusätzlich von anderen Fachwerkstädten unterscheidet: Die unmittelbare Nähe zum Harzer Bergland. In nur 12 Kilometern Entfernung erreicht man den mythischen Brocken, Deutschlands bekanntesten Berg im Harz. Die historische Harzer Schmalspurbahn mit ihren schnaufenden Dampflokomotiven verbindet mittelalterliche Stadtgeschichte mit wilder Natur – eine Kombination, die weder Rothenburg noch andere berühmte Fachwerkstädte bieten können.
Besonders im Herbst 2025 zeigt sich Wernigerode von seiner magischsten Seite. Wenn sich die Harzwälder golden färben, kontrastieren die warmen Herbsttöne wunderbar mit den bunten Fachwerkfassaden, die Hermann Löns einst zum Begriff „Bunte Stadt am Harz“ inspirierten. Das 9. Harzer Kultur- und Altstadtfest im Oktober bringt zusätzliches Leben in die mittelalterlichen Gassen.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der ideale Startpunkt für Ihre Erkundung ist der kostenlose Parkplatz Am Anger, von dem aus Sie in nur 8 Minuten zu Fuß den historischen Marktplatz erreichen. Alternativ nutzen Sie die Linie 1 des HarzElbeExpress mit direkter Verbindung zum Bahnhof Wernigerode. Besuchen Sie Torgau mit der weltweit ersten protestantischen Kirche auf dem Weg, wenn Sie von Leipzig oder Dresden anreisen.
Der beste Fotopunkt für das komplette Altstadtpanorama mit Schloss im Hintergrund liegt auf dem Lindenberg, erreichbar über einen 15-minütigen Spazierweg vom Markt. Für Liebhaber historischer Architektur lohnt sich auch ein Abstecher nach Osterwieck, eine weitere Fachwerkperle in Sachsen-Anhalt mit 400 historischen Gebäuden, nur 40 Autominuten entfernt.
Nach den Herbstwanderungen im Harz können Sie im Frühjahr einen Besuch im nahen Sangerhausen mit 8.700 Rosensorten einplanen – dreimal mehr als in den berühmten Pariser Gärten.
Als ich mit meiner Frau Sarah und unserer Tochter Emma (die sich in die Schlossspielereien beim Altstadtfest verliebt hat) auf der Terrasse des Café Wien sitze, wird mir klar: Wernigerode ist wie ein gut gehüteter Familienschatz – wertvoller als die bekanntesten Touristenattraktionen, weil er seine Authentizität bewahrt hat. Die Stadt fühlt sich an wie ein aufgeschlagenes Märchenbuch, dessen Seiten noch nicht von zu vielen Händen abgegriffen wurden. Entdecken Sie es, solange es noch sein wahres Gesicht zeigt.