Ich stehe auf der alten Stadtmauer von Bernau, nur 30 Kilometer nordöstlich von Berlin, während die Herbstsonne den mittelalterlichen Backstein in goldenes Licht taucht. Was dieses unscheinbare Städtchen mit 45.984 Einwohnern verbirgt, ist eine der erstaunlichsten Wirtschaftsgeschichten Deutschlands. Im 17. Jahrhundert exportierte Bernau jährlich 30.000 Tonnen Bier – eine Produktionsmenge, die selbst für heutige Industriebrauereien beeindruckend wäre. Dieses „beste Bier der Mark Brandenburg“ machte die Stadt weltberühmt, doch heute kennen nur wenige Eingeweihte dieses historische Bierwunder vor Berlins Haustür.
Die vergessene Bierhauptstadt: Wie 30.000 Tonnen Bier Bernau einst berühmt machten
Die Dimension dieser historischen Bierproduktion ist kaum zu fassen. Mit 30.000 Tonnen jährlichem Export versorgte Bernau im 17. Jahrhundert nicht nur Berlin und Brandenburg, sondern Handelspartner in ganz Nordeuropa. Die Qualität war so legendär, dass sogar eine Gründungslegende existiert, nach der Albrecht der Bär die Stadt wegen ihres außergewöhnlichen Bieres gründete.
Die mittelalterliche Braukunst hat tiefe Spuren hinterlassen. Die fast vollständig erhaltene Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert umschließt den historischen Kern, wo einst Dutzende Brauhäuser standen. Bernau war nicht nur wegen seines Bieres bekannt. Die Stadt entwickelte auch eine blühende Tuchproduktion, die Hand in Hand mit dem Braugewerbe ging.
Während das Bernauer Bier heute größtenteils vergessen ist, können Besucher die Geschichte in einem der historischsten Stadtbilder Brandenburgs nachspüren. Das Steintor-Museum bietet faszinierende Einblicke in die Brautradition – ähnlich wie die Sekttradition in Freyburg, wo ein anderes deutsches Dorf heute noch beeindruckende Produktionszahlen erreicht.
Vom Mittelalter zur Moderne: Die UNESCO-Stadt mit dualem Kulturerbe
Was Bernau von anderen historischen Städten unterscheidet, ist der verblüffende Kontrast zwischen mittelalterlicher Tradition und modernster Architektur. Seit 2017 gehört die Bernauer Bundesschule zum UNESCO-Weltkulturerbe als herausragendes Beispiel des Bauhaus-Stils – ein architektonischer Schatz, den selbst viele Berlin-Besucher übersehen.
Diese ungewöhnliche Kombination aus mittelalterlichem Brauerbe und Bauhaus-Moderne findet man sonst nirgends in Deutschland. Während andere Brandenburger Städte mit ihren Schlössern punkten, vereint Bernau authentisches Mittelalter mit wegweisender Moderne.
„Wir kommen jedes Jahr hierher und sind immer wieder erstaunt, wie ruhig es ist. Man kann die Geschichte förmlich atmen, während nur wenige Kilometer weiter das hektische Berlin pulsiert. Diese Kombination aus historischen Mauern und dem Bauhaus-Gebäude ist einfach einzigartig.“
Die Stadt feiert ihre Vergangenheit mit dem Bernauer Hussitenfest, das an die erfolgreiche Verteidigung gegen hussitische Angreifer im Jahr 1432 erinnert. Dieses dreitägige Spektakel zeigt, wie lebendig Tradition hier noch ist – ähnlich wie in sächsischen Orten mit jahrhundertealten Handwerkstraditionen.
Der perfekte Herbstausflug: Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der Oktober 2025 ist die ideale Zeit für einen Besuch in Bernau. Die mittelalterliche Stadtmauer bietet dann einen spektakulären Kontrast zu den herbstlich gefärbten Bäumen des Stadtparks, der auf den alten Befestigungsgräben angelegt wurde.
Erreichen Sie Bernau am besten mit der S-Bahn (S2) von Berlin in nur 30 Minuten. Dies erspart Ihnen die Parkplatzsuche und bringt Sie direkt ins historische Zentrum. Alternativ bietet die Parkanlage am Steintor kostenfreie Parkplätze, wenn Sie mit dem Auto anreisen.
Beginnen Sie Ihren Besuch am frühen Vormittag, wenn das Licht die Stadtmauer ideal zur Geltung bringt. Nach einem Rundgang entlang der Befestigungsanlagen sollten Sie unbedingt eine der kleinen Brauereien besuchen, die die historische Tradition mit modernen Methoden wiederbeleben. Das Bauhaus-Denkmal ist am Nachmittag optimal zu besichtigen, wenn die Sonne die klaren Linien der Architektur betont.
Wenn Sie mehr Zeit haben, erkunden Sie den nahegelegenen Naturpark Barnim mit seiner herbstlichen Farbenpracht – ein perfektes Gegenstück zum kulturellen Stadterlebnis. In 25 Minuten Fahrtzeit erreichen Sie den kristallklaren Liepnitzsee, einen der schönsten Seen Brandenburgs.
Als ich mit meiner Tochter Emma die Stadtmauer entlangwanderte, fragte sie: „Wie konnten die Menschen damals so viel Bier machen?“ Eine gute Frage, die uns zu einem lokalen Bäcker führte, der die Tradition des „Bernsche Klosterbrot“ fortsetzt – ein dunkles, malziges Brot, das früher die Brauer stärkte. Wie der Bäcker sagte: „Ohne gutes Brot kein gutes Bier“ – eine Weisheit, die die Seele dieser Stadt perfekt einfängt. Bernau ist wie ein gut gehütetes Familienrezept: unscheinbar auf den ersten Blick, aber voller Tiefe und Charakter für alle, die genauer hinschauen.
