Dieses bayerische Weindorf von 2.716 Einwohnern vereint mittelalterliche Weinmythen mit modernster Klimaforschung

Der Sonnenlichtstrahl tanzt über den Muschelkalk, als ich die ersten Weinreben entdecke. Es ist noch früh am Morgen, und Thüngersheim erwacht gerade. Mit seinen 2.716 Einwohnern und 270 Hektar Rebfläche scheint dieses fränkische Dorf ein statistisches Wunder zu sein – fast 0,1 Hektar Weinberg pro Person. Doch was mich wirklich fasziniert, ist nicht die Zahl, sondern die seltsame Verbindung zwischen alter Mythologie und moderner Wissenschaft, die in den Weinbergen am Johannisberg und Scharlachberg verborgen liegt.

Ich stehe am Fuße des Johannisbergs, 169 Meter über dem Meeresspiegel, wo der Buntsandstein in der Morgensonne rötlich schimmert. Thüngersheim liegt nur 12 Kilometer nordwestlich von Würzburg, aber es fühlt sich an wie eine andere Welt. Als ich die steilen Rebhänge erklimme, wird mir klar, warum Einheimische diesen Ort das „Burgund Frankens“ nennen.

Wo Weinmythen auf Wissenschaft treffen

Am Johannisberg führt mich Winzer Martin (Name geändert) zu einem Punkt namens „Wein & Mythologie“. Hier, erzählt er, wurden seit dem 9. Jahrhundert Weinrituale abgehalten. „Unsere Vorfahren glaubten, dass bestimmte Mondphasen und Zeremonien den Wein beeinflussen,“ erklärt er, während wir durch die Reben streifen.

Nur einen Kilometer entfernt steht das futuristische VINOMAX am Scharlachberg – eine wissenschaftliche Forschungsstation inmitten der Weinberge. Hier untersuchen Forscher mit Präzisionsinstrumenten die Auswirkungen des Klimawandels auf den Weinbau. Die Kontraste könnten nicht größer sein: mittelalterliche Mythen und Hochpräzisionswissenschaft, vereint durch den Wein.

Die Ähnlichkeit mit Burgundern ist in der geologischen Struktur begründet. Wie in den berühmten französischen Crus gibt es hier Buntsandstein und Muschelkalk in engster Nachbarschaft. Doch während Frankreichs Weinregionen weltberühmt sind, bleibt dieses fränkische Geheimnis weitgehend unentdeckt.

„Wenn du die Kraft des Ortes verstehen willst, musst du hier im Sonnenaufgang stehen, wenn der Nebel über dem Main liegt und die Reben wie in einer alchemistischen Werkstatt zu glühen beginnen. Dann spürst du, warum wir sagen, dass hier Magie und Wissenschaft eins werden.“

Die 270 Hektar Rebfläche verteilen sich auf steile Hänge, die den niedrigen Niederschlag von nur 550-600 mm pro Jahr optimal nutzen. Ein perfekter Ort für den Weinbau, geschützt durch die natürliche Barriere von Rhön und Spessart.

Ein kulturelles Experiment in Frankens Verborgenstem

Was Thüngersheim von anderen fränkischen Weindörfern unterscheidet, ist die ungewöhnliche Verbindung zwischen Wein und Kunst. Die WeinKulturGaden bieten einen Raum, wo Winzer, Wissenschaftler und Künstler zusammenkommen. Ähnlich wie in anderen fränkischen Weindörfern steht die Rebfläche in erstaunlichem Verhältnis zur Einwohnerzahl, wie auch diese Gemeinde mit Frankens zweitgrößter Rebfläche zeigt.

Im historischen Ortskern entdecke ich die Galerie „Formum Botanische Kunst“, wo lokale Künstler die Verbindung zwischen Weinbau und Natur erforschen. Die Verbindung von Weinbau und Kultur hat in Deutschland Tradition, doch während andere Orte auf Literatur setzen, vereint Thüngersheim Wissenschaft, Mythologie und Kunst.

Die besonderen Bodenverhältnisse in Thüngersheim ähneln dem berühmten Quaderkalk der Region, was den Weinen eine mineralische Note verleiht. Der rote Buntsandstein des Scharlachbergs hingegen sorgt für würzige Rotweine – ungewöhnlich für eine Region, die hauptsächlich für Weißweine bekannt ist.

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Der beste Zugang zu den magischen Orten ist über den Weinlehrpfad, der hinter der St. Michael-Kirche beginnt. Parken Sie kostenlos am Mainufer und planen Sie für die Wanderung mindestens drei Stunden ein. Die VINOMAX-Station ist nur montags bis freitags von 10-16 Uhr geöffnet, während der Johannisberg jederzeit zugänglich ist.

Besuchen Sie Thüngersheim am besten im Frühsommer, wenn auf der Höhfeldplatte seltene Orchideen blühen, oder im September zur Weinlese. Meiden Sie die bekannten Weinfeste, wenn Sie Authentizität suchen – kommen Sie stattdessen an normalen Wochenenden, wenn die Weinkeller für spontane Proben öffnen.

Für ein echtes Erlebnis der Weinmythologie nehmen Sie an einer Mondschein-Weinprobe teil, die lokale Winzer bei Vollmond anbieten – ein Ritual, das die alten Legenden des Johannisbergs lebendig werden lässt.

Als ich Thüngersheim verlasse, denke ich an die Worte meiner Frau Sarah, die als Fotografin Orte nach ihrem visuellen Charakter beurteilt: „Manche Orte zeigen ihre Seele nur, wenn man über die offensichtlichen Ansichten hinausblickt.“ In Thüngersheim liegt diese Seele in der unerwarteten Harmonie zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Mythos und Wissenschaft – wie ein guter Wein, der Zeit braucht, um seine volle Komplexität zu offenbaren.