Die Morgensonne taucht die Weinberge in goldenes Licht, während ich auf einem schmalen Pfad stehe, der sich an einer der seltensten geologischen Formationen Deutschlands entlangschlängelt. Vor mir erstreckt sich die einzige echte Mainschleife auf dem gesamten 527 Kilometer langen Mainfluss. Willkommen in Volkach, einem Städtchen mit 8.589 Einwohnern, das ein geologisches Wunder und Deutschlands heimliches Weinparadies in einem ist.
Die Weinreben glitzern im Morgentau, als eine Gruppe von fünf Weinliebhabern mit ihrem Guide in den Weinbergen verschwindet. „Rebsortenwanderung,“ flüstert mir ein vorbeigehender Winzer zu. „Heute probieren sie vier verschiedene Weine in nur drei Stunden.“ In keinem anderen deutschen Weingebiet verschmelzen Natur und Kultur so harmonisch wie hier.
Die 527-Kilometer-Seltenheit: Warum es nur eine echte Mainschleife gibt
Was mir sofort auffällt: Die Einzigartigkeit dieser Flussschleife ist nicht nur eine touristische Übertreibung. Auf dem gesamten 527 Kilometer langen Main existiert tatsächlich nur diese eine natürliche Schleife – ein geologisches Phänomen, das durch Jahrmillionen von Erosion entstanden ist.
Die Schleife umschließt eine Halbinsel, auf der sich einige der wertvollsten Weinlagen Frankens befinden. Der Main hat hier etwas geschaffen, das Geologen als „perfekte Erosionsschleife“ bezeichnen – ein Phänomen, das selbst in Europa äußerst selten ist.
Von hier aus kann ich auch das nur 20 Minuten entfernte Iphofen erkennen, wo Deutschlands authentischste mittelalterliche Stadtmauer seit 1460 das fränkische Erbe bewahrt. Beide Orte bilden das kulturelle Herzstück der Region.
14 Winzer, 25% fränkischer Weine: Die geologische Weinformel
Die Zahlen sind beeindruckend: Auf gerade einmal 160 Hektar Rebfläche produzieren 14 selbstvermarktende Winzer und eine Winzergenossenschaft etwa ein Viertel aller fränkischen Weine. Diese Konzentration wird in Deutschland nur von Hattenheim übertroffen, wo 16 Weltklasse-Weingüter auf nur 0,71 Quadratkilometern zu finden sind.
Der Muschelkalkboden und die perfekte Sonneneinstrahlung an den Hängen der Mainschleife schaffen ideale Bedingungen für Silvaner und Müller-Thurgau. „Während Ockfen im Rheinland für seine authentische Weinlesetradition bekannt ist, überzeugt Volkach durch die ungewöhnliche Konzentration an Spitzenweinen auf kleinstem Raum,“ erklärt mir ein Winzer.
„Wir nennen es unser Franken-Burgund. Die gleiche Hingabe zum Terroir, die gleiche Handwerkskunst, aber ohne Touristenbusse und überfüllte Weinstuben. Hier schmeckst du noch die Seele des Weins, nicht nur den Wein selbst.“
Internationale Weinkenner haben die Region längst als „Franken-Burgund“ getauft. Was mich besonders beeindruckt: Anders als in berühmten Weinregionen begegnen mir hier kaum andere Touristen – stattdessen Einheimische, die ihren Wein und ihre Kultur mit Leidenschaft teilen.
Riemenschneiders Madonna: Der 500 Jahre alte Wächter der Weinberge
Ein schmaler Pfad führt mich zur Wallfahrtskirche Maria im Weingarten. Hier bewacht seit über 500 Jahren ein Meisterwerk von Tilmann Riemenschneider die Rebhänge: die berühmte „Madonna im Rosenkranz“. Ähnlich wie Meißen sein wertvolles Porzellan-Handwerksgeheimnis bewahrt, schützt Volkach das Erbe von Riemenschneiders Kunstwerken.
In der stillen Kirche entdecke ich Details, die kein Reiseführer erwähnt: Die Madonna trägt die traditionelle fränkische Haube – ein subtiler Hinweis auf Riemenschneiders Verbundenheit mit der Region. Das Sonnenlicht fällt durch alte Butzenscheiben und lässt die Holzschnitzerei lebendig wirken.
Die perfekte Rebsortenwanderung: 4 Weine in 3 Stunden
Am Samstag schließe ich mich einer der berühmten Rebsortenwanderungen an. Start ist um 14:00 Uhr am Marktplatz, Dauer etwa 3 Stunden, Kosten: 29 Euro pro Person. Unser Weg führt durch Weinberge, die wie Amphitheater um die Mainschleife angeordnet sind.
An vier Stationen verkosten wir lokale Weine direkt zwischen den Reben, aus denen sie stammen – ein sensorisches Erlebnis, das ich sonst nirgends erlebt habe. „Nach der Rebsortenwanderung in Volkach können Weinkenner ihre Entdeckungsreise in Edenkoben fortsetzen, wo auf 18 Quadratkilometern weitere 10 Weltklasse-Weingüter warten,“ erwähnt unser Guide.
Das Besondere: Diese Wanderungen finden von April bis Oktober fast jeden Samstag statt, doch selbst im Hochsommer treffen sich hier höchstens 15-20 Personen – ein krasser Gegensatz zu den überfüllten Weinfesten im Rheingau oder an der Mosel.
Als die Sonne langsam hinter den Weinbergen versinkt und das letzte Glas Silvaner in meiner Hand golden schimmert, denke ich an all die überlaufenen „Instagram-Spots“, die ich in meinen 10 Jahren als Reisejournalist besucht habe. Volkachs Mainschleife ist das genaue Gegenteil – ein Ort, an dem Authentizität nicht inszeniert wird, sondern gelebt.
Meine Frau Sarah würde die fotografischen Möglichkeiten hier lieben: Das Abendlicht auf den Reben, die perfekte Schleife des Mains, die jahrhundertealten Gebäude – alles eingerahmt von einer Landschaft, die wie ein fränkischer Wirbelwind die Seele umschlingt und nicht mehr loslässt.
