Ich stehe auf der alten Holzbrücke, die Mittenwalds Altstadt mit dem Geigenbaumuseum verbindet. Hier, in einem bayerischen Bergdorf mit nur 7.323 Einwohnern, verbirgt sich ein erstaunliches Geheimnis. Zwölf Meister schaffen in kleinen Werkstätten Instrumente, die in Konzerthäusern von New York bis Tokio erklingen. Während meine Frau Sarah Fotos der bemalten Häuserfassaden macht, ziehe ich den klaren Duft der Karwendelberge ein. Seit 1684 werden hier Geigen gefertigt, die den gleichen Ruf wie Stradivaris genießen – doch anders als das italienische Cremona ist Mittenwald weltweiten Touristenmassen entgangen.
Das „Cremona der Alpen“: Wie 12 Geigenbaumeister ein 7.323-Einwohner-Dorf weltberühmt machten
Die Geschichte beginnt vor 340 Jahren, als Matthias Klotz nach seiner Lehrzeit in Italien die Kunst des Geigenbaus in seine Heimat brachte. Was mich verblüfft: In Mittenwald kommt statistisch auf jeden 610. Einwohner ein Geigenbaumeister – die höchste Konzentration weltweit. Ich beobachte einen älteren Herrn, der mit ruhiger Hand an einer Violine arbeitet.
Ähnlich wie Escherndorf mit seiner Weinbautradition hat auch Mittenwald eine jahrhundertealte Handwerkskunst perfektioniert. „Was diese Geigen besonders macht, ist das Holz“, erklärt mir ein Meister, während er über ein Stück Fichtenholz streicht. Die Bäume wachsen an den steilen Karwendelhängen auf 1.500-1.800 Metern Höhe extrem langsam – perfekt für den Resonanzboden.
Der Weg einer Mittenwalder Geige dauert bis zu 300 Arbeitsstunden. Jedes Instrument durchläuft 78 präzise Arbeitsschritte, bevor es für 3.000 bis 30.000 Euro verkauft wird. Die staatliche Geigenbauschule, eine von nur zwei in ganz Deutschland, bildet jährlich 20 Studenten aus 14 Nationen aus – ein globales Zentrum in einem Dorf, das kleiner ist als die meisten Stadtbezirke.
Warum Mittenwald die authentische Alternative zu überlaufenen Alpenorten bleibt
Während Bad Tölz mit seiner perfekten Alpenarchitektur viele Besucher anzieht, bewahrt Mittenwald seine ruhige Authentizität. Hier gibt es keine Massen, die durch enge Gassen drängen. Die Lüftlmalereien – kunstvolle Fassadenbilder aus dem 18. Jahrhundert – schmücken über 85% der Altstadtgebäude.
„Manchmal hört man abends, wenn die Tagestouristen weg sind, leise Geigenklänge aus den Werkstätten. In diesen Momenten scheint die Zeit stillzustehen – so muss es hier seit Jahrhunderten gewesen sein.“
Der Kontrast zu anderen Alpenorten könnte nicht größer sein. Wo in Garmisch-Partenkirchen (26 km entfernt) internationale Touristengruppen die Straßen füllen, bewahrt Mittenwald seinen ursprünglichen Charakter. Wie die Nordseeinsel Föhr hat auch Mittenwald jahrhundertealte Traditionen in einem überschaubaren Ort bewahrt.
Im September 2025 erlebe ich Mittenwald von seiner besten Seite: Die Herbstfarben der Bergwälder bilden eine spektakuläre Kulisse. Mit nur wenigen hundert Übernachtungsgästen pro Tag – im Vergleich zu mehreren tausend in benachbarten Touristenhochburgen – fühlt sich der Besuch wie ein Privileg an.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zugang zu Mittenwald ist mit der Regionalbahn von München (etwa 2 Stunden). Wer mit dem Auto kommt, findet am Parkplatz P2 nahe dem Geigenbaumuseum kostenlose Parkplätze für die ersten drei Stunden. Besuchen Sie die Geigenbauerwerkstätten am Vormittag zwischen 9 und 11 Uhr, wenn die Meister am aktivsten arbeiten.
Das Geigenbaumuseum (Eintritt 5 Euro) sollte Ihr erster Stopp sein. Achten Sie auf die kleine Tür im hinteren Bereich – sie führt zu einer oft übersehenen Ausstellung historischer Werkzeuge. Für ein authentisches Erlebnis reservieren Sie einen 45-minütigen Workshop bei einem der Meister (ab 25 Euro pro Person), verfügbar mit 7 Tagen Voranmeldung.
Während Mittenwald für seinen Geigenbau berühmt ist, beeindruckt das nahegelegene Leutaschklamm mit dramatischen Felswänden und Wasserfällen. Im Herbst 2025 ist der Zugang aufgrund von Wartungsarbeiten nur von der deutschen Seite möglich – ein Insider-Tipp, den selbst viele Reiseführer nicht erwähnen.
Als ich mit meiner Tochter Emma die kleine Werkstatt eines Geigenbauers verlasse, halten wir noch einmal inne. Hier in Mittenwald, wo die Tradition des Geigenbaus wie ein Echo durch die Jahrhunderte hallt, verstehen wir plötzlich, was wahre Meisterschaft bedeutet. In einer Welt von Massenproduktion und Überkonsum bleibt dieses bayerische Bergdorf ein Refugium der Authentizität – ein Ort, der seine Seele nicht dem Tourismus geopfert hat, sondern sein kulturelles Erbe mit ruhigem Stolz bewahrt.