Diese deutsche Grenzstadt von 57.100 Einwohnern vereint zwei Länder auf einer 945 Meter Brücke

Ich stehe auf der 945 Meter langen Stadtbrücke zwischen Deutschland und Polen, während die Abendsonne die Oder in glänzendes Gold taucht. Links erstreckt sich Frankfurt (Oder), rechts das polnische Słubice – eine geteilte Stadt, die sich wieder zusammengefunden hat. Mit 57.100 Einwohnern wirkt Frankfurt (Oder) auf den ersten Blick wie viele deutsche Kleinstädte. Doch was hier auf beiden Seiten der Oder passiert, ist eines der faszinierendsten Grenzphänomene Europas, das selbst erfahrene Reisende übersehen.

Europäische Doppelstadt auf 945 Metern – wo Deutschland und Polen sich begegnen

Frankfurt (Oder) und Słubice bilden eine einzigartige deutsch-polnische Doppelstadt, die seit der Grenzziehung von 1945 getrennt ist. Was einst die Dammvorstadt von Frankfurt war, wurde zur eigenständigen polnischen Stadt Słubice – eine der wenigen Orte in Europa, wo eine ehemals zusammengehörende Stadt durch nationale Grenzen geteilt wurde.

Der Übergang zwischen beiden Stadtteilen ist heute fließend. Ich beobachte deutsche Studenten, die zum günstigeren Mittagessen nach Słubice spazieren, während polnische Familien zum Einkaufen die Brücke in die andere Richtung überqueren. Anders als bei den dänisch-schwedischen Grenzstädten Helsingør und Helsingborg, die durch einen Meeresarm getrennt sind, verbindet hier eine einfache Fußgängerbrücke zwei Welten.

Während in Koblenz Rhein und Mosel zusammenfließen, trennt und verbindet in Frankfurt (Oder) die Oder zwei Länder und Kulturen – schafft aber gleichzeitig einen gemeinsamen Lebensraum. In 10 Gehminuten wechselt man nicht nur das Land, sondern taucht in ein faszinierendes kulturelles Experiment ein.

Kleiststadt mit 57.100 Einwohnern – literarisches Erbe trifft europäischen Bildungsaustausch

Der berühmteste Sohn der Stadt ist Heinrich von Kleist, einer der bedeutendsten deutschen Dramatiker und Dichter. Als offizielle „Kleiststadt“ (seit 1999) zelebriert Frankfurt (Oder) dieses Erbe mit den jährlichen Kleist-Festtagen im Juni, die Literatur, Theater und Musik verbinden.

Während Pirna durch Canalettos Pinsel Berühmtheit erlangte, prägte in Frankfurt (Oder) Kleists Feder das kulturelle Erbe. Das Kleist-Museum in der Altstadt dokumentiert sein tragisches Leben und dramatisches Werk in den Räumen einer mittelalterlichen Klosteranlage.

„Hier begegnen sich nicht nur zwei Länder, sondern zwei Perspektiven auf eine gemeinsame Zukunft. Das spürt man beim Überqueren der Brücke – ein Gefühl, das ich in keiner anderen europäischen Grenzregion so erlebt habe.“

Das pulsierende Herz der Stadt bildet die Europa-Universität Viadrina, gegründet 1991 als Nachfolgerin der historischen Universität (1506-1811). Mit über 5.000 Studierenden aus mehr als 80 Ländern ist sie ein lebendiges Symbol für grenzüberschreitenden Dialog und internationale Zusammenarbeit.

Anders als das von Bergbautraditionen geprägte Annaberg-Buchholz definiert sich Frankfurt (Oder) primär durch seine Grenzlage und internationalen Verbindungen. Studenten füllen die Cafés, organisieren zweisprachige Kulturveranstaltungen und beleben die historischen Straßen.

Backsteingotik und Oder-Ufer – architektonisches Erbe zwischen zwei Welten

Die St. Marienkirche mit ihren beeindruckenden Bleiglasfenstern aus dem 14. Jahrhundert dominiert die Silhouette der Altstadt. Diese Meisterwerke der Backsteingotik wurden im Zweiten Weltkrieg ausgelagert und konnten so gerettet werden – ein seltenes Glück für eine Stadt, die starke Kriegsschäden erlitt.

Im Sommer verwandelt sich das Oder-Ufer in eine lebendige Freiluftbühne mit Konzerten, Kunstinstallationen und Märkten. Besonders die Oderpromenade lädt zu entspannten Spaziergängen ein, während Bootstouren den Fluss aus einer neuen Perspektive zeigen.

Wer nach dem Grenzbesuch in Frankfurt (Oder) weitere ostdeutsche Kulturperlen entdecken möchte, findet in Dresden ein kontrastreiches Barockensemble mit völlig anderem Charakter – die 120 Kilometer Entfernung lohnen den Umweg.

Grenzerfahrung ohne Touristenmassen – authentisches Europa abseits der Hotspots

Während in Frankfurt (Oder) deutsch-polnische Kultur aufeinandertrifft, bewahrt Bautzen mit seiner sorbischen Minderheit eine andere Form slawisch-deutscher Koexistenz. Beide Städte bieten authentische Einblicke in kulturelle Verflechtungen, die in touristischen Hochburgen oft verloren gehen.

Die beste Zeit für einen Besuch ist der Frühsommer, wenn die Kleist-Festtage stattfinden, oder der Spätsommer für Naturerlebnisse im nahegelegenen Oderbruch. Besonders die Vogelbeobachtung im August bietet seltene Einblicke in die vielfältige Fauna des Flusses.

Von Berlin erreicht man Frankfurt (Oder) bequem in einer Stunde mit dem Regionalexpress. Die perfekte Tagesroute beginnt am Rathaus, führt über die St. Marienkirche zum Kleist-Museum und dann über die Stadtbrücke nach Słubice zum Mittagessen in einem der preiswerten polnischen Restaurants.

Als Sarah und ich abends unsere Fahrräder am Oder-Ufer entlanglenken, wird mir klar: Diese Grenzstadt ist kein Ort für Checklisten-Tourismus, sondern ein Ort zum Verweilen und Beobachten. In einer Welt voller künstlich inszenierter Sehenswürdigkeiten bietet Frankfurt (Oder) etwas viel Wertvolleres – einen authentischen Blick auf das zusammenwachsende Europa, fernab der ausgetretenen Pfade.