Dieses niedersächsische Dorf von 12.700 Einwohnern versteckt 400 Jahre eigenständige Geschichte seit 1616

Die Herbstsonne wirft langes Licht über die alten Häuser, als ich durch die stillen Straßen von Osternburg schlendere. Dieser unscheinbare Stadtteil mit seinen 12.700 Einwohnern liegt nur 3 Kilometer östlich vom Oldenburger Zentrum entfernt, doch ich betrete eine völlig andere Welt. Hier verbirgt sich Niedersachsens vielleicht bestgehütetes historisches Geheimnis – ein Ort, der während der napoleonischen Besatzung tatsächlich offiziell „Marie d’Osternbourg“ hieß und dessen Geschichte mich sofort in ihren Bann zieht.

Was auf den ersten Blick wie ein gewöhnlicher Vorort wirkt, offenbart sich als historisches Chamäleon mit drei völlig unterschiedlichen Leben. Die schmalen Straßen flüstern Geschichten aus dem Jahr 1428, als Osternburg erstmals als „de twe hus to Osterenborch“ urkundlich erwähnt wurde – lange bevor viele heute bekannte deutsche Städte überhaupt existierten.

Die 1,2-Millionen-Flaschen-Fabrik: Wie Osternburg einst die Region dominierte

Während Touristen zum Oldenburger Schloss strömen, übersehen sie ein industrielles Wunder. Die 1845 gegründete Oldenburgische Glashütte entwickelte sich zum Herzstück des Stadtteils. Sarah fotografiert die erhaltenen Industriegebäude, während ich kaum glauben kann, was in den Archiven steht.

„Um 1970 produzierten die Arbeiter hier täglich 1,2 Millionen Getränkeflaschen„, erkläre ich ihr, während wir durch das ehemalige Industriegelände spazieren. „Dieser kleine Ort war einst wichtiger als Teile des Stadtzentrums.“ Die schiere Produktionskraft machte die Glashütte zum größten Industriebetrieb der gesamten Region.

Der 1876 eröffnete Gleisanschluss transformierte Osternburg zusätzlich in einen bedeutenden Eisenbahnknotenpunkt mit eigenem Rangierbahnhof – ein industrielles Kraftzentrum, das heute fast vergessen ist. Ähnlich beeindruckend ist die Industriegeschichte von Freyburg, wo jährlich 50 Millionen Flaschen des berühmten Rotkäppchen-Sekts hergestellt werden – doch Osternburgs Flaschenproduktion übertraf dies täglich.

Von ‚Marie d’Osternbourg‘ zu Osternburg: Die vergessene französische Identität

Was mich wirklich fasziniert: Zwischen 1811 und 1814, während der napoleonischen Besatzung, erhielt dieser kleine Ort offiziell den französischen Namen „Marie d’Osternbourg“. Die Franzosen verwandelten das deutsche Kirchspiel in ein Stück Frankreich mitten in Norddeutschland.

„Viele Besucher können kaum glauben, dass wir hier einst einen französischen Bürgermeister hatten und offiziell Teil des französischen Kaiserreichs waren. Diese Geschichte kennen nicht einmal alle Oldenburger.“

Straßennamen und Archivdokumente bewahren noch heute Spuren dieser französischen Episode. Während andere niedersächsische Städte wie Buxtehude mit ihrer ältesten künstlichen Hafenanlage Nordeuropas werben, bleibt Osternburgs französische Vergangenheit ein verborgenes Kapitel europäischer Geschichte.

Doch die Geschichte beginnt noch früher: 1616 stiftete Graf Anton Günther die erste Kirche und machte Osternburg zu einem eigenständigen Kirchspiel. Er schuf hier auch den „Ihrer Fürstlichen Gnaden Lustgarten auf der Wunderburg“ – ein Name, der in den Straßenbezeichnungen weiterlebt.

12.700 Einwohner und drei historische Leben: Kirchspiel, Industrie, Stadtteil

Osternburg verkörpert drei völlig verschiedene historische Identitäten: vom eigenständigen Kirchspiel über die französisch geprägte Kommune bis zum industriellen Kraftzentrum. Heute leben hier 12.700 Menschen in einem ruhigen Stadtteil, der seinen historischen Charakter bewahrt hat.

Die evangelisch-lutherische Dreifaltigkeitskirche von 1616 ist die zweitälteste ihrer Art in der Region und steht als stiller Zeuge dieser ungewöhnlichen Entwicklung. Während Wernigerode mit seinen 1.400 historischen Fachwerkhäusern weithin bekannt ist, bietet Osternburg einen authentischeren Einblick in die norddeutsche Geschichte – ohne Touristenmassen.

Der perfekte Herbst-Stadtrundgang: Entdecken Sie das historische Chamäleon 2025

Der Oktober 2025 ist der ideale Zeitpunkt, Osternburg zu erkunden. Die Herbstsonne taucht die historischen Gebäude in goldenes Licht, während die Touristenmassen bereits abgezogen sind. Beginnen Sie Ihren Besuch am frühen Vormittag an der Dreifaltigkeitskirche und folgen Sie dem Hunte-Uferweg für atemberaubende Herbstfärbungen.

Parken Sie kostenlos am Stadtrand und erkunden Sie den Ort zu Fuß oder mit dem Fahrrad – Osternburg ist wie ganz Oldenburg extrem fahrradfreundlich. Für die beste Erfahrung besuchen Sie das Stadtarchiv, wo Dokumente aus der Zeit als „Marie d’Osternbourg“ ausgestellt sind.

Wenn Sie Ihre Reise durch Norddeutschland fortsetzen möchten, ist Usedom mit seiner erstaunlichen Naturvielfalt eine perfekte Ergänzung für Ihr Reiseerlebnis.

Während ich meine Notizen schließe, denke ich an die vielen Orte, die ich in zehn Jahren als Reisejournalist besucht habe. Doch selten fand ich einen Ort, der wie Osternburg drei so unterschiedliche historische Identitäten in sich vereint. Wie ein norddeutsches Chamäleon wandelte es seine Erscheinung vom Kirchspiel über französische Enklave zum Industriezentrum – eine Verwandlungskunst, die selbst erfahrene Deutschlandreisende überrascht.