Ich stehe auf der Bartenwetzerbrücke in Melsungen, die Morgensonne taucht die 29 Meter hohe Silhouette des Rathauses in goldenes Licht. Der mittelalterliche Fachwerkwolkenkratzer mit seinen vier markanten Türmchen ragt majestätisch über die Kleinstadt mit nur 14.011 Einwohnern empor. Unter mir plätschert die Fulda sanft über die Sandsteinblöcke, in die Generationen von Waldarbeitern tiefe Schleifmulden hinterlassen haben – stille Zeugen einer jahrhundertealten Tradition, die hier zweimal täglich lebendig wird.
Es ist kurz vor 12 Uhr mittags. Die kleine Gruppe von Einheimischen und Besuchern auf dem Marktplatz verrät: Etwas Besonderes steht bevor. Ich schaue auf meinen Stadtplan und erkenne: Melsungen liegt strategisch perfekt, nur 21 Kilometer südlich von Kassel und ist dennoch ein unentdecktes Juwel an der Deutschen Fachwerkstraße.
Deutschlands 29-Meter-Fachwerkwolkenkratzer mit vier mittelalterlichen Türmchen
Das zwischen 1562 und 1568 erbaute Rathaus ist ein wahrhaftiger Gigant seiner Zeit. Mit 29 Metern Höhe überragt es die meisten zeitgenössischen Gebäude um ein Vielfaches und wirkt im Zentrum der Kleinstadt wie ein mittelalterlicher Wolkenkratzer. Die vier charakteristischen Fachwerktürmchen waren damals ein deutliches Machtsymbol – ein architektonisches Statement des bürgerlichen Selbstbewusstseins.
„Die Handwerkskunst ist unvergleichlich – jeder Balken erzählt seine eigene Geschichte. Nicht einmal in größeren Städten findet man solche Meisterwerke in dieser Höhe und Vollkommenheit,“ erklärt mein Stadtführer stolz, während wir die aufwendigen Schnitzereien bewundern.
Rund um das Rathaus gruppieren sich über 400 liebevoll restaurierte Fachwerkhäuser – eine der höchsten Konzentrationen in ganz Nordhessen. Anders als in Wernigerode mit seinen 1.400 historischen Häusern punktet Melsungen nicht mit schieren Zahlen, sondern mit der vertikalen Dimension und der Qualität seines Rathauses.
Die lebende Legende: Warum der Bartenwetzer täglich um 12 und 18 Uhr erscheint
Die Turmuhr schlägt zwölf und plötzlich öffnet sich ein Fenster im Rathausturm. Eine Holzfigur erscheint – der berühmte Bartenwetzer, der symbolisch seine Axt schärft. Diese Figur ist mehr als bloßes Spektakel. Sie repräsentiert die historischen Waldarbeiter, die an der Fuldabrücke ihre „Barten“ (Äxte) schärften, bevor sie in den umliegenden Wäldern ihrer Arbeit nachgingen.
„Dieses tägliche Ritual um 12 und 18 Uhr verbindet uns mit unserer Geschichte. Während andere Städte ihre Traditionen in Museen verstecken, leben unsere mitten unter uns – zweimal täglich, pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk.“
Die Schleifmulden in der Sandsteinbrücke sind der physische Beweis dieser jahrhundertealten Praxis. Ich streiche mit den Fingern über die glattgeschliffenen Rillen. Ähnlich wie der Türmer in Schmalkalden hält auch der Melsunger Bartenwetzer eine jahrhundertealte Tradition lebendig.
Der nordhessische Dialektausdruck „Bartenwetzer“ – zusammengesetzt aus „Barte“ für Axt und „wetzen“ für schärfen – ist längst zum Spitznamen für alle Melsunger geworden. Eine Identität, die stolz getragen wird und das Handwerksgeschick der Region widerspiegelt.
Die historischen Schleifmulden: Handfeste Beweise einer Jahrhunderte alten Handwerkstradition
Auf der Bartenwetzerbrücke, die seit dem Mittelalter die Fulda überspannt, finden sich die beeindruckendsten Zeugnisse dieser lokalen Tradition. An der Brüstung sind tiefe Rillen zu sehen – entstanden durch das tägliche Schärfen der Werkzeuge, als Generationen von Waldarbeitern hier ihre Äxte wetzen.
Während Soest mit seinem charakteristischen Grünsandstein besticht, setzt Melsungen auf die komplexe Handwerkskunst des Fachwerks und diese greifbaren Verbindungen zur Arbeitswelt vergangener Jahrhunderte. Die Schleifspuren sind authentische Artefakte des Alltags – keine musealen Inszenierungen.
Herbst 2025: Die perfekte Zeit für eine historische Zeitreise nach Melsungen
Der Herbst 2025 bietet die ideale Gelegenheit, Melsungen zu erleben. Das goldene Herbstlicht lässt die Fachwerkmuster plastisch hervortreten, während die Laubbäume entlang der Fulda in warmen Farben leuchten. Anders als Witzenhausen mit seiner Kirschblüte im Frühling zeigt sich Melsungens Fachwerkensemble besonders malerisch im goldenen Herbstlicht.
Besucher sollten früh planen – Stadtführungen mit dem Bartenwetzer sind besonders gefragt und müssen im Voraus gebucht werden. Das Sandcenter-Parkhaus in der Sandstraße 23 bietet zentrale Parkmöglichkeiten, von wo aus die gesamte Altstadt bequem zu Fuß erkundet werden kann.
Der beste Zeitpunkt für Fotos ist entweder der frühe Morgen, wenn die Sonne die Fassaden des Rathauses anstrahlt, oder der späte Nachmittag, kurz bevor der Bartenwetzer um 18 Uhr erscheint und das warme Abendlicht die Fachwerkdetails betont.
Als ich Melsungen verlasse, nehme ich das Gefühl mit, einen Ort entdeckt zu haben, der seine Geschichte nicht nur bewahrt, sondern täglich lebt. Sarah würde die Lichtspiele auf den Fachwerkfassaden lieben – perfekte Fotomotive für ihre Architektursammlung. Wie ein mittelalterliches Uhrwerk tickt diese Stadt im Rhythmus ihrer Traditionen – präzise, verlässlich und dennoch voller Überraschungen für den, der genau hinschaut.
