Bernsteinsucher vor mir, stürme ich den menschenleeren Strand von Loddin. Zwischen meinen Fingern gleitet feiner Sand – der 12 Kilometer lange Bernsteinstrand, den die meisten Usedom-Besucher nie entdecken. Dieser winzige Flecken Deutschlands, gerade 5 Meter über dem Meeresspiegel, verbirgt ein unglaubliches Geheimnis: Nur 872 Einwohner bewahren hier eine 1.400-jährige ununterbrochene Siedlungsgeschichte seit der germanischen Besiedlung um 630 n.Chr. Das entspricht gerade einmal 0,62 Einwohnern pro Siedlungsjahr – eine der ältesten kontinuierlichen Siedlungstraditionen an der deutschen Ostseeküste.
Deutschlands authentischstes Ostseebad bewahrt 1.400-jährige germanische Tradition
An der schmalsten Stelle Usedoms, wo nur 500 Meter die salzige Ostsee vom süßen Achterwasser trennen, liegt Loddin – praktisch unsichtbar für die 2,5 Millionen Touristen, die jährlich die überfüllten Kaiserbäder besuchen. Wie der Ortschronist Ulrich Knöfel mir erklärt, war „Loddin ursprünglich ein reines Fischer- und Bauerndorf, dessen Boden durch Flugsand nicht besonders fruchtbar war, das Achterwasser dagegen sehr fischreich.“
Während ich durch die drei Ortsteile Loddin, Kölpinsee und Stubbenfelde wandere, fällt mir auf, wie traditionelle schilfgedeckte Häuser das Landschaftsbild dominieren. An der Ostseeküste Deutschlands ist eine solche Sammlung authentischer Fischerarchitektur heute äußerst selten zu finden. Die Hauptattraktion für Eingeweihte: Funde von Bernstein, dem „Gold der Ostsee“, besonders nach Herbststürmen.
Im Gegensatz zu Sankt Peter-Ording, wo auf jeden der 3.724 Einwohner jährlich 268 Touristen kommen, genießt Loddin noch ein authentisches Gleichgewicht zwischen Besuchern und Einheimischen. Hier finde ich eine Küstenidylle, die ohne die Menschenmassen von Nordsee-Hotspots auskommt.
Deutschlands St. Ives: Maritimes Erbe trifft auf Bernstein-Kunsthandwerk
Ich habe fast jede Küste Europas bereist, aber Loddin erinnert mich verblüffend an Cornwalls St. Ives – ein malerisches Fischerdorf mit Kunsthandwerktradition. Doch während an der Nordsee das exklusive Kampen mit seiner 30-Meter-Steilküste Prominente anzieht, bleibt Loddins vergleichbare Naturschönheit noch ein Geheimtipp.
In der Heimatstube am Bahnhof 2 entdecke ich eine faszinierende Bernsteinsammlung, die seit über 110 Jahren lokale Naturbernstein-Funde und traditionelle Handwerkskunst präsentiert. Wie im rheinländischen Ockfen, wo Winzer jahrhundertealte Traditionen bewahren, pflegen die Bernsteinsammler in Loddin ein Kulturerbe, das Generationen überdauert.
„Nach Herbststürmen liegen manchmal Bernsteinstücke direkt vor meinen Füßen am Strand. Manche Besucher laufen daran vorbei, aber wer das goldene Funkeln im Sand erkennt, findet Schätze, die Jahrmillionen alt sind. Es fühlt sich an, als würde man Geschichte aus dem Meer fischen.“
Besonders beeindruckend: Während die Einwohnerzahl seit Jahrhunderten unter 1.000 bleibt, hat das Dorf seine kulturelle Identität durch Slawenzeit, Mittelalter, preußische Herrschaft und zwei Weltkriege ungebrochen bewahrt. Das Naturschutzgebiet Loddiner Höft beherbergt sogar Deutschlands nördlichsten Weinberg – ein erstaunlicher Klimabeleg für Usedoms 1.917 Sonnenstunden jährlich, mehr als in manchen Teilen Spaniens.
Was die Reiseführer Ihnen nicht über Loddin erzählen
Der ideale Zugang erfolgt über die B111 und den Bahnhof Kölpinsee, mit kostenlosen Parkplätzen am Achterwasserhafen. Besuchen Sie die Heimatstube dienstags und donnerstags 14-17 Uhr, wo lokale Bernsteinschätze und maritime Exponate die Geschichte des Ortes erzählen.
Die besten Bernsteinfundstellen finden Sie beim Nordhangweg und am Loddiner Höft nach östlichen Windstürmen. Für die perfekte Strandwanderung starten Sie früh morgens um 7 Uhr oder spätnachmittags ab 16 Uhr, wenn das goldene Herbstlicht den Bernstein zum Leuchten bringt.
Für authentisches Fischessen besuchen Sie Kikis Bootsverleih direkt am Achterwasser, wo Fischer ihre täglichen Fänge direkt vom Boot verkaufen und im Restaurant zubereiten. Der 12 km Bernsteinstrand ist für Sammler besonders ergiebig, nachdem der Wind auf Ost gedreht hat.
Als ich Loddin verlasse, nehme ich einen kleinen Bernstein mit – gewärmt von meiner Hand wie von der tausendjährigen Sonne, die ihn schuf. Meine Frau Sarah, die als Fotografin die Steilküste dokumentierte, meinte, hier hätte die Zeit eine andere Qualität. In einer Welt von Instagram-Hotspots und überfüllten Sehenswürdigkeiten ist Loddin ein Echtzeit-Erlebnis, das sich anfühlt wie Deutschland vor 50 Jahren – authentisch, unverfälscht und bereit, seine Geheimnisse nur denen zu enthüllen, die genau hinschauen.
