Ich stehe am Rande des mittelalterlichen Stadtwalls und blicke über die Dächer von Soest. Die warme Herbstsonne lässt den einzigartigen Grünsandstein leuchten, der hier über 600 denkmalgeschützte Gebäude prägt – auf gerade einmal 13 Quadratkilometern. Das ist eine Denkmaldichte, die selbst UNESCO-Welterbestätten in den Schatten stellt. Sarah fotografiert begeistert die leeren Gassen, während die Stadt langsam erwacht.
Die Stadt mit dem weltweit einzigartigen Grünsandstein-Ensemble
Soest, knapp 50 Kilometer östlich von Dortmund, bewahrt ein architektonisches Wunder, das viele übersehen. Der charakteristische grünliche Stein, der nur hier abgebaut wurde, verleiht der gesamten Altstadt einen mystischen Schimmer, besonders im weichen Herbstlicht.
Während Rothenburg ob der Tauber jährlich von Touristenmassen überrannt wird, bleibt diese über 1000 Jahre alte Hansestadt ein Geheimtipp. Ich zähle an diesem Dienstagmorgen gerade mal acht weitere Besucher auf dem historischen Marktplatz.
Die mittelalterliche Stadtmauer, die ich gerade entlangspaziere, ist zu drei Vierteln erhalten und vollständig von Bäumen gesäumt. Der Weg führt mich zu einem weiteren Weltrekord: St. Maria zur Wiese, eine der schönsten spätgotischen Hallenkirchen Deutschlands, deren Glasfenster revolutionär bis fast zum Boden reichen.
In St. Maria zur Höhe entdecke ich das einzige gotische Scheibenkreuz auf dem europäischen Festland – ein architektonisches Rätsel, das selbst erfahrene Kunsthistoriker fasziniert. Während Freudenberg mit seinen identischen Fachwerkhäusern durch Gleichförmigkeit beeindruckt, brilliert Soest durch Einzigartigkeit jedes einzelnen historischen Gebäudes.
Das mittelalterliche Lucca Deutschlands
Ein lokaler Historiker bezeichnete Soest einmal als „Lucca Deutschlands“ – beide Städte haben vollständig erhaltene, begehbare Stadtmauern. Doch während die italienische Schwester von Touristen überlaufen ist, atmet Soest noch authentisches Leben.
„Hier kannst du morgens durch die Gassen schlendern und hörst nur deine eigenen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Dann öffnen die kleinen Cafés ihre Türen, und du bist mitten im echten Deutschland – nicht in einer Touristenkulisse.“
Diese Authentizität spüre ich besonders in den versteckten Gärten zwischen den Häusern – mittelalterliche grüne Lungen, die bis heute erhalten sind. Einige sind öffentlich zugänglich und bieten eine friedliche Oase, die ich komplett für mich allein habe.
Als Hansestadt war Soest einst reicher als Köln und Hamburg zusammen. Diesen historischen Wohlstand erkennt man an der außergewöhnlichen Kirchendichte. Wie Hameln mit seiner weltberühmten Rattenfänger-Geschichte hat auch Soest ein kulturelles Erbe, das weit über die Stadtgrenzen hinausstrahlt.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Die beste Zeit für Fotos ist 30 Minuten vor Sonnenuntergang, wenn das Licht die grüne Färbung des Sandsteins verstärkt. Parken Sie kostenlos am Ulrichertor und gehen Sie von dort zu Fuß – die gesamte Altstadt lässt sich in einem gemütlichen 2-Stunden-Spaziergang erkunden.
Ein unbekanntes Highlight ist der Rosengarten an der Gräfte, wo über 200 historische Rosensorten wachsen. Im Herbst leuchten hier die Hagebutten zwischen buntem Laub – ein Fotomotiv, das ich nicht verpassen wollte.
Wer das authentische mittelalterliche Soest erleben möchte, sollte jetzt im Herbst kommen, bevor die Stadt sich im November verwandelt. Dann findet hier die Allerheiligenkirmes statt – Europas größte Altstadtkirmes, bei der 1,2 Millionen Besucher in die 30.000-Einwohner-Stadt strömen.
Für Naturfreunde bietet die Region um Soest herrliche Herbstwanderungen. Besonders empfehlenswert ist Brilon mit seinem gigantischen Stadtwald, ideal für diejenigen, die nach dem Stadtbesuch Erholung in der Natur suchen.
Als ich mit Emma auf dem historischen Stadtwall spaziere, hält sie plötzlich inne und zeigt auf einen Grünsandstein: „Daddy, der Stein lächelt!“ Und tatsächlich – im richtigen Licht scheinen manche der alten Steine Gesichter zu bilden. Wie in einem versteinerten Geschichtsbuch erzählt jeder dieser grünlichen Zeugen eine Geschichte aus 1000 Jahren. Soest ist kein Museum – es ist ein lebendiges Juwel, das nur darauf wartet, von achtsamen Reisenden entdeckt zu werden.
