Warum dieser thüringische Ort von 19.000 Einwohnern 158 steinerne Stufen zu deutschlands letzter bewohnter türmerstube versteckt

Der Wind streicht durch die engen Gassen von Schmalkalden, als ich vor der imposanten St. Georg Kirche stehe. 158 schmale Steinstufen warten auf mich, die hinauf zum letzten bewohnten Türmerstübchen Deutschlands führen. Mein Atem stockt nicht wegen der Höhe von 50 Metern, sondern beim Gedanken an die unglaubliche Geschichte dieses Ortes: Eine Familie mit 14 Kindern lebte hier oben, wachte über die Stadt – auf einem Raum, der kaum größer ist als mein Hotelzimmer. Versteckt im Herzen Thüringens, 270 Kilometer östlich von Frankfurt, hat dieses mittelalterliche Juwel ein Geheimnis bewahrt, das selbst die meisten Deutschen nicht kennen.

Die Familie auf dem Turm: 364 Jahre Leben in schwindelerregender Höhe

„Passen Sie auf Ihren Kopf auf“, warnt mich die Stadtführerin, während wir die immer enger werdende Wendeltreppe erklimmen. Jede Stufe erzählt die Geschichte einer Familie, die hier oben von 1571 bis 1935 lebte – ein Zeitraum, der länger ist als die Existenz der Vereinigten Staaten.

Der letzte Türmer und seine Familie meisterten einen Alltag unter extremsten Bedingungen. Keine Toilette, kein fließendes Wasser, und ein Wohnraum so beengt, dass für jedes Familienmitglied rechnerisch weniger als 3 Quadratmeter zur Verfügung standen. Dennoch war die Familie das Frühwarnsystem der Stadt.

Im winzigen obersten Stockwerk angekommen, blicke ich durch dieselben Fenster, durch die der Türmer einst Brände bis zu 20 Kilometer entfernt erspähen konnte. Das gesamte Stübchen ist kleiner als mein Wohnzimmer in Portland – Sarah würde hier oben sofort Platzangst bekommen.

Die Familie musste jede Nacht abwechselnd wachen, um nach Bränden Ausschau zu halten, während die anderen sich in die winzigen Kammern quetschten. Eine falsche Bewegung könnte bedeuten, dass man über ein schlafendes Kind stolpert oder den Wasservorrat umwirft.

Das authentische Mittelalter: Schmalkalden vs. das überlaufene Rothenburg

Während ich die schmale Treppe wieder hinabsteige, wird mir bewusst, was Schmalkalden von Deutschlands touristischen Hotspots unterscheidet. Über 90% der historischen Fachwerkbauten sind hier original erhalten – mehr als in Rothenburg ob der Tauber, aber ohne die Touristenmassen.

Der Altmarkt mit seinen bunten Fachwerkhäusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert liegt still in der Nachmittagssonne. Nur wenige Besucher schlendern über das Kopfsteinpflaster, während in Rothenburg jährlich 2,5 Millionen Touristen durch die Gassen drängen.

„In dieser Stadt atmet man Geschichte, ohne von Souvenirläden erdrückt zu werden. Was man hier findet, ist das echte, unverfälschte Deutschland – keines, das für Touristen inszeniert wurde.“

Im Vergleich zu anderen Fachwerkstädten wirkt Schmalkalden wie Freudenberg im Siegerland mit seinen identischen Fachwerkhäusern authentischer – weil es nicht für Touristen lebt, sondern seine Geschichte bewahrt hat.

Das Renaissance-Schloss Wilhelmsburg thront über der Stadt, nahezu unverändert seit 1590. Anders als bei touristischen Festungsanlagen ist hier fast alles im Originalzustand – vom Festsaal bis zur Schlosskapelle.

Die letzten Chancen: Warum Sie 2025 das Türmerstübchen besuchen sollten

Das Türmerstübchen ist nur samstags zwischen 10:30 und 12:30 Uhr geöffnet, und das ausschließlich von Mai bis Oktober. Keine Reservierung möglich – wer zuerst kommt, steigt zuerst. Eine Planungsschwierigkeit, die aber den Reiz des Authentischen verstärkt.

Mit dem 1250-jährigen Stadtjubiläum im nächsten Jahr wächst das Interesse – doch noch ist Schmalkalden ein Geheimtipp. Genau wie Friedland in Mecklenburg-Vorpommern mit seinen verborgenen Schätzen bietet auch Schmalkalden Sehenswürdigkeiten mit begrenzten Öffnungszeiten.

Die beste Zeit für einen Besuch ist der frühe Herbst, wenn die Thüringer Waldhöhen in goldenes Licht getaucht werden. Der perfekte Zeitpunkt für Fotos vom Türmerstübchen ist gegen 16 Uhr, wenn die Nachmittagssonne die Fachwerkfassaden zum Leuchten bringt.

Wer nach weiteren historischen Mysterien in Thüringen sucht, sollte auch Gera mit seinen unterirdischen Höhlern besuchen – ideal für eine Kombinationsreise.

Während ich im Café am Marktplatz sitze und meine Aufzeichnungen mache, sehe ich, wie ein einzelner Besucher die Kirchentür öffnet und hineinspäht. Ich denke an die Familie des Türmers, wie sie Tag für Tag dieselben steilen Stufen erklomm, die ich heute bestiegen habe. Anders als die Kinder im legendären Rattenfänger-Mysterium in Hameln, haben die Kinder des Türmers eine gut dokumentierte Geschichte hinterlassen – eine Geschichte, die in Schmalkalden nur darauf wartet, entdeckt zu werden.