Weniger touristisch als Weimar versteckt diese thüringische Stadt von 40969 Einwohnern Goethes 28 geheime Besuche

Die Nachmittagssonne taucht den Kickelhahn in goldenes Licht, während ich den steilen Pfad erklimme. Nach 178 Stufen stehe ich vor einer unscheinbaren Holzhütte, die ein bemerkenswertes Geheimnis birgt. Hier, 861 Meter über dem Meeresspiegel, schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1780 sein „Wandrers Nachtlied“. Nicht in Weimar, wie die meisten vermuten, sondern in Ilmenau – einer 40.969-Einwohner Stadt am Rande des Thüringer Waldes, die der Dichterfürst erstaunliche 28 Mal besuchte. Ein verstecktes Juwel, das selbst eingefleischte Goethe-Kenner selten auf dem Radar haben.

Die Stadt mit 28 Goethe-Besuchen: Warum das deutsche Genie Ilmenau Weimar vorzog

Während Weimar jährlich von 6,2 Millionen Touristen überrannt wird, empfängt Ilmenau nur 400.000 Besucher. Ein erstaunliches Missverhältnis, bedenkt man Goethes tiefe Verbindung zu diesem Ort. „Anmutig Tal, du immergrüner Hain“ – so beschrieb er die Stadt, die ihm als Zufluchtsort diente.

Der Dichter kam nicht primär als Künstler, sondern als Staatsminister mit konkretem Auftrag: die Wiederbelebung des Ilmenauer Bergbaus. Dennoch fand er hier mehr Inspiration als in der höfischen Gesellschaft Weimars. Zwischen 1776 und 1831 kehrte er immer wieder zurück, doppelt so oft wie zu manch anderen berühmteren Orten seiner Biografie.

Ähnlich wie Thüringens architektonische Schätze in Sondershausen bietet auch Ilmenau historische Substanz – mit dem Unterschied, dass hier Geschichte und Natur eine perfekte Symbiose eingehen. Vom 500 Meter hoch gelegenen Stadtzentrum führen Wanderwege direkt in den Thüringer Wald.

Wie 8.000 Studenten eine 40.000-Einwohner-Stadt transformieren

Während Erfurt mit seinen historischen Schätzen glänzt, bietet Ilmenau eine selten gewordene Mischung aus Tradition und Zukunft. Hier studieren 8.000 junge Menschen an der einzigen Technischen Universität Thüringens – fast 20 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Diese akademische Präsenz verleiht der Stadt eine jugendliche Energie, die im Kontrast zu vielen anderen ostdeutschen Städten steht. Während der Region insgesamt Bevölkerungsschwund droht, wächst Ilmenau jährlich um 0,6 Prozent. Ein kleines Wunder in der demografischen Landschaft Thüringens.

„Morgens stehe ich auf dem Marktplatz, trinke meinen Kaffee für gerade mal 2,50 Euro, und blicke auf barocke Gebäude. Nachmittags wandere ich durch unberührten Wald zum Kickelhahn. Abends diskutiere ich mit Studenten über Quantenphysik. Wo sonst findest du diese Kombination?“

Im Gegensatz zu Suhls industriellem Erbe hat Ilmenau seinen Fokus auf Bildung und Forschung gelegt. Die einst bedeutende Porzellan- und Glasproduktion weicht zunehmend innovativen Technologieunternehmen, die von der Universität profitieren.

Der Thüringer Wald trifft auf Innovation: Warum Naturliebhaber und Technikfans gleichermaßen hierher kommen

Ilmenau liegt wie ein deutsches Interlaken eingekesselt zwischen Berggipfeln. Direkt am Rennsteig, Deutschlands ältestem und bekanntestem Höhenwanderweg, bietet die Stadt Zugang zu 199 Quadratkilometern Natur. Während Heilbad Heiligenstadt für seine Naturheilkraft bekannt ist, bietet der Thüringer Wald um Ilmenau unberührte Wildnis mit spektakulären Ausblicken.

Prof. Dr. Ulrike Pilling, Goethe-Forscherin an der TU Ilmenau, erklärt: „Goethe fand hier nicht nur Inspiration für seine Dichtung, sondern auch für sein wissenschaftliches Weltbild. Der Kickelhahn war sein persönlicher Rückzugsort – kein Denkmal in Weimar hat diese Intimität.“

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Besuchen Sie Ilmenau am besten zwischen Ende August und Mitte September. In dieser Zeit beginnt der Blätterwechsel, während die Temperaturen noch angenehm sind. Die Wanderwege sind weniger frequentiert als im Hochsommer oder während der Herbstferien.

Der beste Zugang zum Kickelhahn führt über die Waldstraße mit kostenlosem Parkplatz am Waldrand. Früher Morgen oder später Nachmittag bieten das schönste Licht für Fotos vom Goethe-Häuschen. Besonders lohnenswert: Das „Goethe@250“-Jubiläum im September 2025 mit der Premiere der AR-App „Digitaler Goethe-Wald“, die Goethes Wanderwege mit originalen Tagebuchzitaten markiert.

Während meine Frau Sarah Fotos vom Sonnenuntergang über dem Thüringer Wald macht, denke ich an Goethes Zeilen: „Über allen Gipfeln ist Ruh“. Diese Ruhe findet man in Ilmenau noch heute – ein seltenes Gut in unserer hektischen Zeit. Manchmal müssen wir abseits der ausgetretenen Pfade wandern, um das wahre Herz eines Ortes zu entdecken. In Ilmenau schlägt es im Rhythmus von Goethes Versen, gepaart mit dem Pulsschlag einer jungen, zukunftsgewandten Generation.