Die Morgensonne vergoldet die fast tausendjährigen Sandsteinmauern der Burgkirche, während ich ihren mittelalterlichen Wehrgang besteige. Von hier oben bietet sich ein atemberaubender Blick über Ingelheim am Rhein, eine Stadt mit genau 35.016 Einwohnern auf 73,31 Quadratkilometern. Was mich an diesem Ort fasziniert: In nur drei Kilometern Entfernung ragt der Jugendstil-Bismarckturm in den Himmel – ein Zeitsprung von fast 800 Jahren Architekturgeschichte auf kleinstem Raum.
Fast 900 Jahre alte Wehranlagen neben Art Nouveau: Ein kultureller Zeitsprung
Die Burgkirche St. Wigbert stammt in ihren ältesten Teilen aus dem Jahr 1103 und beherbergt einen der am besten erhaltenen mittelalterlichen Wehrgänge Westdeutschlands. Ihre massiven Schutzmauern wurden einst errichtet, um die Bevölkerung vor Überfällen zu schützen. Heute bieten sie einen einzigartigen Rahmen für das monatliche Rotweinfest.
Was diese Stadt besonders macht: Während andere Städte in Rheinland-Pfalz den Nibelungen-Mythos mit ihrem Weinanbau verbinden, präsentiert Ingelheim einen faszinierenderen Kontrast. Der zwischen 1907 und 1912 erbaute Bismarckturm verkörpert mit seinen Jugendstil- und neuromanischen Elementen eine völlig andere Epoche als die mittelalterliche Burgkirche.
Sarah, meine Frau, fotografiert begeistert die goldenen Lichtstrahlen, die durch das historische Marienfenster fallen und bunte Muster auf den steinernen Boden zaubern. Meine Tochter Emma ist fasziniert vom begehbaren Wehrgang, der früher Bogenschützen Schutz bot und heute einen der besten Aussichtspunkte der Stadt darstellt.
Weniger Touristen als in Rüdesheim, aber mindestens ebenso viel Kultur
Anders als überlaufene Weinorte an der Mosel, die täglich Tausende Besucher empfangen, bietet Ingelheim eine ruhigere, authentischere Alternative. Während andere deutsche Weinregionen wie in Bayern auf mittelalterliche Weinmythen und Klimaforschung setzen, konzentriert sich Ingelheim auf seine über 9 Hektar ökologisch bewirtschaftete Weinberge.
„Nach 25 Jahren Besuch in deutschen Weinstädten kann ich sagen: Hier erlebt man noch echte rheinhessische Weinkultur ohne die üblichen Touristenmassen. Die Kombination aus mittelalterlicher Wehrkirche und Rotweinfest ist einzigartig in Deutschland.“
Die Weintradition in Ingelheim reicht zwar nicht ganz 2000 Jahre zurück wie bei den römischen Weinbergen anderer Orte in Rheinland-Pfalz, beeindruckt aber dennoch mit qualitativ hochwertigen Rotweinen aus ökologischem Anbau.
Eine unerwartete Attraktion ist der Tiger-Garten, der gerettete Zirkustiger aus Tschechien beherbergt und nur mit Führung zugänglich ist – eine weitere Facette dieser überraschend vielseitigen Stadt.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Besuchen Sie Ingelheim am besten zwischen April und Oktober, wenn das monatliche Rotweinfest in der Burgkirche stattfindet. Während Ingelheims Burgkirche einen komplett begehbaren Wehrgang bietet, findet man ähnliche begehbare Wehrtürme auch in nahegelegenen hessischen Dörfern.
Ein absolutes Highlight für diesen Sommer: Das Hafenfest vom 25.–27. Juli 2025, perfekt um die sommerliche Rheinatmosphäre zu genießen, ohne den Massentourismus größerer Weinfeste erleben zu müssen. Die ideale Route verbindet den Bismarckturm mit seiner Aussicht über das Rheintal mit einem Besuch der Burgkirche und endet im historischen Winzerkeller.
Lokale Winzer empfehlen, einen „Schoppe“ (regionaler Begriff für ein Glas Wein) im Innenhof der Burgkirche zu genießen, vorzugsweise am späten Nachmittag, wenn das Licht durch die alten Mauern besonders stimmungsvoll fällt. Während andere deutsche Weinregionen wie in Bayern auf mittelalterliche Weinmythen setzen, konzentriert sich Ingelheim auf praktische Weinkultur.
Nach drei Tagen in Ingelheim am Rhein bin ich überzeugt: Diese Stadt verkörpert den perfekten Kontrast zwischen Geschichte und Moderne, zwischen mittelalterlicher Wehrhaftigkeit und Jugendstil-Eleganz. In einer Welt, wo Tourismus oft zu Überfüllung führt, bleibt Ingelheim ein Ort, an dem man das authentische rheinhessische Leben erleben kann – mit einem Glas Rotwein in der Hand, den Blick über die Weinberge schweifen lassend, während die alten Mauern der Burgkirche Geschichten aus fast einem Jahrtausend erzählen.