Weniger touristisch als Weimar versteckt dieses Mecklenburg-Vorpommern Städtchen von 4.876 Einwohnern deutsches Literaturerbe

Sonnenlicht blitzt auf einer 160 Jahre alten Eiche, während ich auf dem stillen Marktplatz von Stavenhagen stehe. Hier, im Herzen von Mecklenburg-Vorpommern, entdecke ich eine Stadt mit nur 4.876 Einwohnern, die einen literarischen Schatz von globaler Bedeutung verbirgt. Die berühmte Reutereiche, gepflanzt vom niederdeutschen Schriftsteller Fritz Reuter selbst, steht als lebender Zeuge einer nahezu vergessenen Sprachkultur. Während Touristen sich in Scharen nach Weimar oder Heidelberg drängen, bleibt dieses literarische Juwel unentdeckt – obwohl es für die deutsche Kulturgeschichte ähnlich bedeutend ist wie Haworth für die englische.

Die Reutereiche: Wie ein 160 Jahre alter Baum eine vergessene Sprache beschützt

„Kein minsch kann för de taukumst sorgen, wenn hei nich de vergangenheit ihrt,“ flüstert mir eine ältere Dame zu, als ich vor der majestätischen Reutereiche stehe. Das niederdeutsche Sprichwort bedeutet: Niemand kann für die Zukunft sorgen, wenn er nicht die Vergangenheit ehrt. Der Baum wurde 1863 von Fritz Reuter selbst gepflanzt und steht symbolisch für das kulturelle Erbe der Region.

Im nahegelegenen Fritz-Reuter-Literaturmuseum entdecke ich, dass die niederdeutsche Sprache einst von Millionen gesprochen wurde, heute aber vom Aussterben bedroht ist. Die Ausstellung beherbergt eine beeindruckende Spezialbibliothek mit 15.000 Bänden zur niederdeutschen Literatur – ein kultureller Schatz, der die Essenz einer ganzen Sprachregion bewahrt.

Die Ironie ist frappierend: Während jährlich Millionen Touristen deutsche Literaturorte wie Weimar überfluten, bleibt Stavenhagen mit seinen authentischen literarischen Wurzeln nahezu unentdeckt. Hier begegnet man nicht kostspieligen Souvenirläden, sondern echtem kulturellem Erbe.

Stavenhagen vs. Haworth: Zwei literarische Seelen mit unterschiedlichem Schicksal

Was die Brontë-Schwestern für die englischsprachige Welt bedeuten, verkörpert Fritz Reuter für die niederdeutsche Literatur. Doch während Goethes Weimar und Haworth jährlich von Hunderttausenden Touristen besucht werden, empfängt Stavenhagen nur einen Bruchteil davon.

„Hier atmet man noch die echte Literaturgeschichte, ohne durch Menschenmassen geschoben zu werden. Man kann in Ruhe Reuters Welt erleben und die Atmosphäre spüren, die seine Werke geprägt hat.“

Auf dem historischen Marktplatz, wo ein Denkmal an den Schriftsteller erinnert, spüre ich, wie anders dieser Ort ist als Karl Mays Radebeul. Während die sächsische Stadt ihre Winnetou-Verbindung kommerziell feiert, bleibt Stavenhagens literarisches Erbe unverfälscht.

Das Schloss Stavenhagen, heute Verwaltungssitz, beherbergt im Kellergewölbe ein charmantes Heimatmuseum. Hier tauchen Besucher in die Geschichte ein, die Reuters Literatur prägte – fern vom Massentourismus, der andere literarische Stätten überwältigt.

Vom Dialekt zur Weltliteratur: Reuters Vermächtnis in 15.000 Bänden

Obwohl Reuters Werke in 17 Sprachen übersetzt wurden, bleibt sein Vermächtnis außerhalb Deutschlands weitgehend unbekannt. Seine Geschichten, die das ländliche Leben in Mecklenburg schildern, haben eine ähnliche kulturelle Bedeutung wie die Werke der Brontë-Schwestern für die englische Moorlandschaft.

Die Sammlung des Museums umfasst persönliche Gegenstände, Erstausgaben und eine umfangreiche Bibliothek zur niederdeutschen Sprache. Bemerkenswert ist, dass diese Sprache, einst von Millionen gesprochen, heute nur noch von wenigen beherrscht wird – ein kulturelles Erbe, das durch Stavenhagens Engagement bewahrt wird.

Die Parallele zu anderen kleinen Städten in Mecklenburg-Vorpommern ist offensichtlich: Während Plau am See mit seinen Badewannen-Rennen Aufmerksamkeit erregt, setzt Stavenhagen auf nachhaltigen Kulturtourismus.

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Der beste Zeitpunkt für einen Besuch ist der frühe Vormittag, wenn das Morgenlicht durch die Bäume auf dem Marktplatz fällt. Parken Sie kostenlos am Schlossplatz und beginnen Sie Ihre Erkundung mit einem Kaffee im kleinen Café gegenüber dem Museum.

Verpassen Sie nicht das nahe gelegene Künstlerdorf Grammentin, etwa 15 Minuten Fahrzeit entfernt. Hier haben lokale Künstler Gebäude in Freiluft-Kunstinstallationen verwandelt – ein Geheimtipp, der in keinem Reiseführer steht.

Während andere Besucher nach Kühlungsborn mit seiner langen Strandpromenade strömen, genießen Sie die Ruhe der Ivenacker Eichen – einige der ältesten Bäume Europas – nur 20 Minuten von Stavenhagen entfernt.

Als ich mit meiner Kamera die stille Reutereiche verlasse, denke ich an meine Tochter Emma, die bald sieben wird. Ich werde ihr von diesem Ort erzählen, wo Bäume Geschichten bewahren und eine kleine Stadt ein großes kulturelles Erbe beschützt. In einer Welt überlaufener Touristenziele ist Stavenhagen wie ein seltenes Buch – kostbar, weil es von wenigen entdeckt wurde. Die wahren Schätze Deutschlands liegen nicht immer dort, wo die Massen hinströmen.