Ich stehe am Marktplatz von Gardelegen, umgeben von prächtigen Fachwerkhäusern und blicke auf das mittelalterliche Rathaus. Schwer zu glauben, dass ich mich in der drittgrößten Stadt Deutschlands befinde – zumindest flächenmäßig. Mit erstaunlichen 633 km² ist Gardelegen nach Berlin und Hamburg die flächengrößte Stadt der Republik, beherbergt aber gerade einmal 21.822 Einwohner. Ein faszinierendes Paradoxon inmitten der Altmark in Sachsen-Anhalt, etwa 125 km westlich von Berlin.
Die erstaunliche Stadt der Weiten: 35 Einwohner pro Quadratkilometer
Der statistische Kontrast ist verblüffend. Während Berlin etwa 4.090 Menschen pro km² zählt, leben in Gardelegen durchschnittlich nur 35 Einwohner auf jedem Quadratkilometer – eine Bevölkerungsdichte vergleichbar mit Teilen Sibiriens, nicht mit einer deutschen Stadt.
Die historische Kernstadt mit ihren mittelalterlichen Gebäuden erstreckt sich auf gerade einmal 6,4 km². Der Rest? Endlose Wälder, Felder und 49 eingemeindete Dörfer, die sich über die gewaltige Fläche verteilen. Sarah, meine Frau, konnte kaum glauben, dass wir zwei Stunden mit dem Fahrrad unterwegs waren und uns noch immer innerhalb der Stadtgrenzen befanden.
Dieses einzigartige Stadt-Land-Paradoxon entstand durch die Gemeindegebietsreform von 2010, als 18 umliegende Gemeinden eingemeindet wurden. Der Bürgermeister verwaltet heute ein Gebiet, das größer ist als so manche europäische Hauptstadt.
Zwischen Hansestadt und Naturidylle: Ein Reisekontrast
Der mittelalterliche Stadtkern mit dem prächtigen Rathaus, der St. Nikolaikirche und der historischen 2,3 km langen Wallanlage erinnert an Lüneburg oder Celle. Doch während dort Touristengruppen durch die Gassen strömen, begegne ich hier hauptsächlich Einheimischen.
„Man kann hier einen ganzen Tag durch die Natur wandern und keiner Menschenseele begegnen. Gleichzeitig sind wir eine richtige Stadt mit allem, was dazugehört. Das verstehen Besucher oft erst, wenn sie hier waren.“
Diese besondere Kombination macht Gardelegen zu einem idealen Ziel für alle, die Sachsen-Anhalts Hansestädte wie das benachbarte Salzwedel besuchen möchten, aber dem Touristenrummel entfliehen wollen.
Beeindruckend ist auch der historische Kontrast. Während ich durch die idyllische Landschaft radele, stoße ich auf die Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe – ein Mahnmal für über 1.000 KZ-Häftlinge, die hier 1945 ermordet wurden. Die Stadt verbindet auf einzigartige Weise hanseatische Schönheit mit einer Erinnerungskultur, die ähnlich wie bei der Gedenkstätte in Seelow wichtige deutsche Geschichte bewahrt.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Besuchen Sie Gardelegen am besten zwischen April und September, wenn die Naturlandschaften in voller Blüte stehen. Beginnen Sie Ihren Tag früh morgens am Marktplatz, wenn die ersten Sonnenstrahlen das Rathaus in goldenes Licht tauchen und die Cafés öffnen.
Das Salzwedeler Tor bietet kostenlosen Parkplatz und ist der ideale Ausgangspunkt. Von hier aus erreichen Sie in 5 Gehminuten den Marktplatz und die historische Wallanlage mit ihren imposanten Linden.
Ein Geheimtipp ist die Fahrt zum Naturpark Drömling im nördlichen Stadtgebiet. Diese einzigartige Moorlandschaft beherbergt seltene Vogelarten und kann perfekt mit dem Rad erkundet werden. Im Vergleich zu dichter besiedelten Städten wie Zwickau mit seinen 88.000 Einwohnern auf nur 42 km² erleben Sie hier wahre Weite.
Nehmen Sie sich Zeit für einen Besuch in einem der versteckten Dorfgasthäuser, wo Sie regionale Spezialitäten wie die Altmärker Hochzeitssuppe probieren können – ein Rezept, das seit Generationen überliefert wird.
Die Stadt der Kontraste
Während Emma am späten Nachmittag über die grünen Wiesen am Stadtrand tollte, musste ich an all die überfüllten Städte denken, die ich bereist habe. Gardelegen ist wie eine Meditation inmitten des hektischen Deutschlandtourismus – ein Ort, an dem Geschichte und Natur in perfekter Balance existieren.
Die Stadt ist wie eine seltene Wildblume, die man nur findet, wenn man abseits der ausgetretenen Pfade sucht. In einer Zeit, in der Slow Travel immer wichtiger wird, ist Gardelegen ein verborgenes Juwel für alle, die authentisches Deutschland abseits des Massentourismus erleben möchten.