Der Nieselregen hängt wie ein silbriger Vorhang über den Schieferdächern, als ich durch die schmale Kopfsteinpflastergasse auf den Marktplatz trete. Gräfrath – ein Stadtteil mit 18.645 Einwohnern und einem komplett unter Denkmalschutz stehenden Ortskern – liegt vor mir ausgebreitet wie ein vergessenes Bilderbuch. Dass dieser versteckte Schatz in Solingen, nur 30 Kilometer östlich von Düsseldorf, kaum jemandem bekannt ist, erscheint mir sofort als glücklicher Zufall. Ich stehe allein auf dem Marktplatz, während der Regen auf meine Jacke trommelt und sich an den 120 Baudenkmälern des mittelalterlichen Ortskerns perlt.
18.645 Einwohner bewahren Deutschlands versteckten Schieferschatz
Was mich sofort fasziniert: Der komplette historische Kern steht unter Denkmalschutz – nicht nur einzelne Gebäude. Während ich meine Kamera auspacke, zähle ich an jeder Ecke schieferverkleidete Fachwerkhäuser im typischen Bergischen Stil. Ähnlich wie Wasserburg am Inn mit seinen 90% historischen Gebäuden hat Gräfrath einen vollständig erhaltenen Ortskern, aber mit deutlich weniger Besuchern.
Die Regentropfen verwandeln die Schiefer in glänzende schwarze Spiegel. Der Bergische Baustil mit seinen charakteristischen grauen Fassaden und grünen Fensterläden entfaltet bei Nässe seinen besonderen Charme. Sarah hätte die perfekten Fotos gemacht – das Licht ist trotz des Regens erstaunlich weich.
Ein älterer Herr mit Regenschirm nickt mir zu und deutet auf die beeindruckende Klosterkirche. „Die St. Mariä Himmelfahrt stammt aus dem Jahr 1195 und wurde nach verheerenden Bränden 1686 und 1717 im Barockstil wiederaufgebaut,“ erklärt er mir. „Wissen Sie, dass Gräfrath im Mittelalter ein bedeutender Wallfahrtsort war? Die Reliquien der heiligen Katharina zogen Pilger von weit her an.“
Warum Kenner Gräfrath dem „deutschen Colmar“ vorziehen
Während das elsässische Colmar mit seinen Fachwerkhäusern jährlich von Touristenmassen überrannt wird, bleibt Gräfrath ein Geheimtipp. Die Authentizität ist hier spürbar – keine Souvenirläden mit Massenprodukten, sondern echtes Leben in historischen Mauern. Während ich den Marktplatz überquere, entdecke ich handgefertigte Klingen im Schaufenster eines kleinen Ladens – eine Hommage an Solingens berühmtes Handwerk, das im nahen Klingenmuseum dokumentiert wird.
„Die meisten Besucher bleiben nur eine Stunde und verpassen das Beste. Wenn die Abendsonne die Schieferdächer zum Glühen bringt und die Cafés ihre Stühle nach draußen stellen, zeigt Gräfrath seine wahre Seele. Man braucht Zeit, um den Rhythmus zu spüren – langsamer als anderswo, aber umso tiefer.“
Anders als in Gengenbach im Schwarzwald mit seinen 70% denkmalgeschützten Gebäuden geht Gräfrath noch weiter mit einem vollständig geschützten Ensemble. Emma würde die versteckten Tierplastiken an den Hausfassaden lieben – ein Spiel, das ich mit meiner Tochter oft auf Reisen spiele.
Der Nieselregen lässt nach, als ich das Deutsche Klingenmuseum betrete. In den historischen Mauern des ehemaligen Klosters präsentiert es über 2.000 Exponate von antiken Schwertern bis zu modernen Designobjekten. Ähnlich wie Lich sein kleinstes Theater im Turm versteckt, präsentiert Gräfrath seine Kulturschätze in einer überraschenden Mischung aus Alt und Neu.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zugang erfolgt über die Autobahn A46, Ausfahrt Solingen-Gräfrath. Parken Sie am besten auf dem kostenlosen Parkplatz an der Wuppertaler Straße, nur 200 Meter vom Marktplatz entfernt. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen Sie den Ort mit der Buslinie 683 vom Solinger Hauptbahnhof.
Besuchen Sie Gräfrath am frühen Morgen oder am späten Nachmittag, wenn das Licht die Schieferfassaden zum Leuchten bringt. Im Sommer 2025 öffnen die Biergärten am Marktplatz bis 22 Uhr – perfekt für laue Abende zwischen Fachwerkhäusern. Das kleine Café Hubert serviert den besten Bergischen Waffeln mit heißen Kirschen – ein lokales Muss für nur 4,50 Euro.
Während andere im Bergischen Land wie Bad Honnef als „rheinisches Nizza“ bekannt sind, entfaltet Gräfrath seinen eigenen sommerlichen Charme mit historischer Tiefe. Der Tierpark Fauna liegt nur 15 Gehminuten entfernt und bietet eine willkommene Abwechslung für Familien.
Als die Sonne durch die Wolken bricht, spiegeln sich die nassen Pflastersteine wie poliertes Silber. Diese versteckte Ecke Deutschlands trägt das Gefühl einer anderen Zeit in sich – eine, die nicht künstlich für Touristen konserviert wurde, sondern lebendig geblieben ist. Während ich meinen Kaffee auf dem Marktplatz genieße, denke ich an all die Orte, die ich bereist habe. Manche glänzen im Scheinwerferlicht der Reiseführer, andere – wie dieser – flüstern ihre Geschichten nur denen zu, die bereit sind, genauer hinzuhören. Gräfrath ist wie ein gut gehütetes Familiengeheimnis: zu wertvoll, um es laut hinauszuposaunen, aber zu schön, um es ganz für sich zu behalten.