Dieses Rügen-Ostseebad von 6.636 Einwohnern kämpft gegen 12 Prozent Zweitwohnsitze

Die Morgensonne taucht die weißen Villen von Binz in goldenes Licht, als ich über die Strandpromenade schlendere. Es ist erst 7 Uhr, und die 6.636 Einwohner dieses Ostseebads sind bereits in Bewegung – lange bevor die Touristenmassen eintreffen. Hier, am größten Seebad Rügens, entfaltet sich ein faszinierendes Spannungsfeld: Eine Kleinstadt mit historischer Bäderarchitektur kämpft gegen den Ansturm von Besuchern und für ihre Identität. „Die perfekte Metapher für den Konflikt zwischen Tradition und Massentourismus,“ flüstere ich in mein Diktiergerät, während eine ältere Dame ihre Blumenkästen gießt und mir freundlich zunickt.

Binz: Wo 6.636 Einwohner zwischen Prachtvillen und Touristenströmen leben

Die Zahlen sind beeindruckend: In diesem Ostseebad mit gerade einmal 6.636 Einwohnern sind heute 12% der Wohnungen Zweitwohnsitze. In der Hochsaison vervielfacht sich die Bevölkerung auf ein Vielfaches. Es ist ein Phänomen, das nicht nur Binz betrifft – auch an der Nordsee kämpfen kleine Gemeinden mit bis zu 50.000 Besuchern täglich.

Die Gemeinde hat reagiert. Seit Juli 2025 gibt es neue Bewohnerparkzonen, die den Einheimischen das Leben erleichtern sollen. „Eine notwendige Maßnahme,“ erklärt mir ein Gemeindemitarbeiter, während wir an einer Reihe denkmalgeschützter Villen vorbeigehen. Diese prächtigen Bauten aus der Blütezeit des Seebädertourismus um 1900 sind das Herzstück von Binz – und gleichzeitig Teil des Problems.

Hinter jeder historischen Fassade verbirgt sich eine Geschichte. Viele dieser Villen sind heute in Ferienapartments umgewandelt, die nur saisonal bewohnt werden. In den Wintermonaten wirken ganze Straßenzüge wie verlassen. Ein Problem, das die Gemeinde durch strengere Regulierungen in den Griff bekommen möchte.

Prora: Vom Nazi-Koloss zum umstrittenen Touristenmagnet

Nur 5 Kilometer von Binz entfernt liegt einer der faszinierendsten Orte Rügens: der Koloss von Prora. Dieses gigantische Bauwerk aus der NS-Zeit erstreckt sich über 4,5 Kilometer entlang der Küste und war ursprünglich als KdF-Seebad für 20.000 Urlauber geplant. Heute ist es ein bizarrer Mix aus Luxusapartments, Hostels und Kulturstätten.

Die Verbindung von Sassnitz mit seiner 1.450 Meter langen Mole und dem nahegelegenen Prora-Komplex zeigt die kontrastreiche Infrastruktur der Insel Rügen. Während Mecklenburg-Vorpommern zahlreiche historische Überraschungen beherbergt – von vergessenen Autoerfindern bis hin zu monumentalen NS-Bauten – ist Prora in seiner Dimension einzigartig.

„Der Naturstrand vor Prora ist der eigentliche Geheimtipp,“ verrät mir ein Strandkorbverleiher. „Hier ist es selbst in der Hochsaison entspannter als am Hauptstrand von Binz.“ Ich folge seinem Rat und finde einen fast menschenleeren Küstenabschnitt mit feinem Sand und kristallklarem Wasser.

„Manche Besucher verstehen nicht, dass wir hier leben und nicht nur existieren, um Touristen zu bedienen. Wir lieben unseren Ort und wollen seine Seele bewahren – nicht zu einem Freizeitpark werden.“

Stimmen aus Binz: „Unser Dorf ist kein Museum“

Im Café am Marktplatz komme ich mit Einheimischen ins Gespräch. Die Stimmung ist gemischt: Einerseits profitieren viele vom Tourismus, andererseits sehnen sie sich nach mehr Authentizität. Wie andere historisch bedeutsame Kleinstädte in Deutschland steht Binz vor der Herausforderung, lebendiger Wohnort zu bleiben, statt zum reinen Freilichtmuseum zu werden.

Die Bäderarchitektur mit ihren weißen Fassaden, Balkonen und Türmchen ist beeindruckend, aber sie braucht Leben hinter den Fenstern. Ein junger Familienvater erklärt: „Im Winter fühlt es sich manchmal an, als würden wir in einer Geisterstadt leben. Wir brauchen mehr dauerhaft bewohnte Häuser und weniger Ferienwohnungen.“

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Der beste Zugang zu Binz erfolgt mit dem „Rasenden Roland“, einer historischen Schmalspurbahn, die mehrere Orte auf Rügen verbindet. Wer mit dem Auto kommt, sollte außerhalb parken und den kostenlosen Shuttle nutzen – besonders in der Hauptsaison eine kluge Entscheidung.

Besuchen Sie Binz am frühen Morgen oder späten Nachmittag, wenn die Tagestouristen abreisen. Die Seebrücke bietet dann den perfekten Rahmen für Sonnenauf- oder -untergänge. Während Binz mit Massentourismus kämpft, bietet das nahe gelegene Sellin mit seiner Tauchgondel eine alternative Perspektive auf die Ostsee.

Als ich am Abend mit meiner Frau Sarah telefoniere, beschreibe ich ihr die skurrile Schönheit des Märchenwalds mit seinen bizarr geformten Bäumen und die majestätischen Villen entlang der Strandpromenade. Binz erinnert mich an einen Tänzer, der versucht, zwei verschiedene Rhythmen gleichzeitig zu tanzen – den gemächlichen Takt des Insellebens und den schnellen Beat des modernen Massentourismus. Wer die wahre Seele dieses bemerkenswerten Ortes erleben möchte, sollte jetzt kommen – bevor die Balance zwischen beiden Welten für immer verlorengeht.