Der Straßenbelag ändert sich abrupt von neu zu historisch, als ich von der B104 in das verschlafene Malchin einbiege. Mittag an einem Dienstag, und die 7.000-Einwohner-Stadt wirkt ruhig – fast zu ruhig für einen Ort, der eigentlich in jedem Geschichtsbuch der Automobilentwicklung stehen müsste. Zwischen zwei glitzernden Seen eingebettet, versteckt diese mecklenburgische Kleinstadt ein Geheimnis, das selbst die meisten Deutschen nicht kennen: Hier wurde Siegfried Marcus geboren, der Mann, der das erste benzinbetriebene Automobil der Welt schuf – Jahre vor Benz und Daimler.
Die vergessene Wiege der Automobilgeschichte
Die schmale Hauptstraße führt mich am restaurierten Rathaus vorbei, dessen Zunftzeichen von handwerklicher Tradition zeugen. An der Ecke entdecke ich einen unscheinbaren Hinweis auf Marcus‘ Geburtshaus. Es ist 1831, als hier in Malchin ein Kind geboren wird, dessen Erfindungen die Welt verändern sollten.
Im Heimatmuseum, untergebracht in der alten Stadtmühle, treffe ich auf eine kleine, aber faszinierende Ausstellung. Originalzeichnungen und Modelle dokumentieren, wie Marcus in Wien seinen revolutionären Verbrennungsmotor entwickelte und 1870 sein erstes benzinbetriebenes Fahrzeug in Bewegung setzte.
„Was für eine Ironie“, erklärt mir der Museumswärter, während er auf eine Karte zeigt, die Stuttgart, München und Malchin verbindet. „Wir feiern Daimler und Benz, aber der wahre Pionier stammt aus dieser kleinen Stadt zwischen Kummerower See und Malchiner See.“
Zwischen Technikerbe und Naturparadies: Die überraschende Dualität
Was Malchin so besonders macht, ist dieser unerwartete Kontrast: Auf der einen Seite das technische Erbe eines Visionärs, auf der anderen die unberührte Naturidylle der Mecklenburgischen Seenplatte. An beiden Seen verfügt die Stadt über Häfen mit der Qualitätsauszeichnung „Gelbe Welle“ – ein Prädikat für besonders gut ausgestattete Anlegestellen.
Ich miete ein kleines Boot am Malchiner Hafen und gleite über das klare Wasser. Die mittelalterliche Silhouette der Stadt mit dem markanten Turm der St. Johanniskirche spiegelt sich im See. Die Friese-Orgel dieser Kirche ist ein weiteres verstecktes Juwel, das Musikliebhaber aus nah und fern anzieht.
„Die meisten Besucher kommen wegen der Seen und entdecken erst hier, dass sie sich an einem Ort von welthistorischer Bedeutung befinden. Diese Überraschung sieht man in ihren Augen – erst Entspannung, dann Staunen.“
Während Grevesmühlen sich in Deutschlands lauteste Piratenhauptstadt verwandelt, bleibt Malchin seinem Doppelcharakter treu: technische Innovation trifft auf naturbelassene Ruhe.
Warum Malchin 2025 zum Technik-Pilgerziel wird
Für 2025 plant die Stadt ein besonderes Ereignis: Das Altstadtfest soll mit einer Sonderausstellung zu Marcus‘ 195. Geburtstag verbunden werden. Experten aus Wien, wo Marcus später wirkte, haben ihre Teilnahme zugesagt.
Der Trend zu authentischen Reisezielen abseits überlaufener Touristenpfade spielt Malchin in die Karten. Ähnlich wie Siegburg mit seinem vergessenen Keramik-Erbe erlebt auch diese mecklenburgische Kleinstadt eine wachsende Wertschätzung für ihr industrielles Erbe.
Die Jubiläumswoche im Juli verspricht neben dem traditionellen Festumzug auch technische Demonstrationen, historische Fahrzeugmodelle und Vorträge zur Automobilgeschichte. Besonders interessant: Eine Rekonstruktion von Marcus‘ Erstfahrt wird auf dem Marktplatz zu sehen sein.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der ideale Besuchszeitpunkt für Malchin liegt zwischen Juni und September, wenn sowohl Wassersport als auch Stadtbesichtigung optimal möglich sind. Das Altstadtfest findet traditionell Mitte Juli statt, doch auch abseits dieses Höhepunkts lohnt der Besuch.
Die beste Anreise erfolgt über die B104, mit kostenlosem Parken am Stadtrand. Frühmorgens um 7 Uhr oder abends ab 18 Uhr haben Sie die historischen Gassen fast für sich allein – ideal für Fotos ohne Touristen.
Nehmen Sie sich Zeit für einen Abstecher nach Parchim mit seinen gotischen Backsteinmeisterwerken, nur 30 Kilometer entfernt – eine perfekte Ergänzung zu Malchins technischem Erbe.
Als ich Malchin verlasse, werfe ich einen letzten Blick auf die Stadt zwischen den Seen. Meine siebenjährige Tochter Emma hatte gestern noch nie von Siegfried Marcus gehört. Heute kann sie stolz erklären, dass das Auto nicht in Stuttgart, sondern hier in Mecklenburg-Vorpommern erfunden wurde. Wie ein Motor, der zunächst unbemerkt läuft und dann plötzlich seine volle Kraft entfaltet, scheint auch Malchins historische Bedeutung endlich die verdiente Aufmerksamkeit zu bekommen.