Durch die schwere Holztür steige ich in den 48 Meter hohen mittelalterlichen Turm, während Sonnenstrahlen durch schmale Fensteröffnungen fallen. Mit jedem Schritt auf der spiralförmigen Treppe enthüllt Lich, diese 14.218 Einwohner zählende Stadt in Mittelhessen, ihr bestgehütetes Geheimnis. Was von außen wie ein typischer Stadtturm aus dem 14. Jahrhundert wirkt, verbirgt in seinem Inneren etwas völlig Unerwartetes – Deutschlands kleinstes Theater, versteckt im ehemaligen Turmverließ. Nach 700 Jahren Geschichte wurde dieser historische Wehrturm zu einem einzigartigen Kulturzentrum umfunktioniert – eine Verbindung, die ich so nirgendwo sonst in Deutschland entdeckt habe.
Wo mittelalterliche Festungsarchitektur auf intime Kulturerlebnisse trifft
Der trutzige Licher Stadtturm überragt die malerische Altstadt mit ihren restaurierten Fachwerkhäusern um mehr als zehn Stockwerke. Was diese Stadt von anderen unterscheidet, ist die kreative Nutzung dieses historischen Monumentes. Im ehemaligen Gefängnis des Turms, dem Turmverließ, entstand ein winziges Theater mit weniger als 50 Sitzplätzen – ein intimes Kulturerlebnis, das in seiner Kombination aus mittelalterlicher Atmosphäre und künstlerischem Schaffen einzigartig ist.
Die Initiative „Turmfreunde“ hat dieses architektonische Juwel durch Spendengelder und unermüdliches Engagement zu neuem Leben erweckt. Während in Thüringen eine der ältesten Karnevalstraditionen Deutschlands gepflegt wird, setzt Lich auf dieses intimere Kulturkonzept. Die schmalen Treppen führen nicht nur zum Theater, sondern auch zu einer Aussichtsplattform, die einen atemberaubenden Blick über die sanften Hügel zwischen Vogelsberg und Wetterau bietet.
„Man sitzt dort so nah an den Künstlern, dass man ihren Atem spüren kann, während die jahrhundertealten Mauern eine Atmosphäre schaffen, die kein modernes Theater nachahmen könnte. Es ist, als würde Geschichte lebendig werden, sobald das Licht erlischt.“
Die Vorstellung, in einem Raum zu sitzen, der einst Gefangene beherbergte, während heute Kultur und Kunst zelebriert werden, schafft einen faszinierenden Kontrast. Während Johann Sebastian Bach seine ersten Kompositionen in Arnstadt schuf, entdecken Kulturliebhaber heute im Licher Turmverließ zeitgenössische Darbietungen in historischem Ambiente.
Ein verstecktes Juwel abseits der Touristenströme
Anders als im überlaufenen Rothenburg ob der Tauber, wo Touristengruppen durch enge Gassen drängen, bietet Lich ein authentisches Erlebnis ohne Massentourismus. Die Stadt liegt nur 12 Kilometer südöstlich von Gießen, bleibt aber selbst im Hochsommer vergleichsweise ruhig. Während Delitzsch mit Deutschlands ältestem Barockschloss beeindruckt, überrascht Lich mit einer ganz anderen historischen Rarität.
Der 7 Hektar große Schlosspark der Fürsten zu Solms-Hohensolms-Lich ergänzt das kulturelle Angebot perfekt. Nach einem Theaterbesuch im Turm laden weitläufige Parkwege zum Flanieren ein. Für Geschichtsinteressierte bietet der Ortsteil Muschenheim mit dem Megalithgrab „Heiliger Stein“ eine weitere Überraschung – eine prähistorische Stätte, die an bedeutende Fundorte wie das bronzezeitliche Fürstengrab in Thüringen erinnert.
Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen
Der beste Zeitpunkt für einen Besuch des Stadtturms ist sonntagvormittags, wenn die Turmfreunde Führungen anbieten. Im Sommer 2025 haben Besucher die Chance, die kühlen Steinmauern des Turms als angenehme Abwechslung zur Hitze zu erleben. Parken Sie am besten kostenfrei am Bürgerpark und erreichen den Turm nach einem fünfminütigen Spaziergang durch die Altstadt.
Verbinden Sie Ihren Theaterbesuch mit einer Führung durch die Licher Brauerei, die 55.000 Flaschen pro Stunde abfüllt – ein beeindruckender Kontrast zum intimen Kulturerlebnis im Turm. Nur wenige Kilometer entfernt liegt Bad Nauheim, einst Elvis Presleys deutsche Heimat, was einen spannenden Tagesausflug ermöglicht.
Als ich abends mit meiner Kamera den Turm verlasse, beobachte ich, wie die untergehende Sonne die Fachwerkhäuser in goldenes Licht taucht. Meine Frau Sarah würde diese fotografische Stimmung lieben. Lich erinnert mich an das, was Reisen ausmacht – nicht die berühmtesten Orte zu besuchen, sondern jene, die ihre Authentizität bewahrt haben. Wie ein gutes hessisches „Handkäs mit Musik“ – unscheinbar auf den ersten Blick, aber voller Charakter und unverwechselbarem Geschmack für jene, die bereit sind, genauer hinzuschauen.