Ich verlangsame meinen Schritt, als die Peenebrücke vor mir auftaucht – dieses majestätische blaue Stahlmonster, das sich auf Kommando für passierende Schiffe öffnet. Wolgast, diese kleine Ostseestadt mit nur 11.047 Einwohnern, wirkt heute Morgen seltsam unberührt vom Touristenrummel. Direkt hinter der Brücke, dem „Tor zu Usedom“, entfaltet sich ein maritimes Schauspiel, das man in den überlaufenen Seebädern vergeblich sucht: Die gigantischen Stahlkonstruktionen der Peene-Werft ragen wie industrielle Kathedralen in den Himmel.
„Willkommen im unbekanntesten Schiffbau-Hotspot der Ostsee“, schmunzelt der ältere Herr am Hafenkiosk, während er auf die Silhouette der Werft deutet. Hier verschmelzen mittelalterliche Geschichte und moderne Industrie auf faszinierende Weise – ein Kontrast, der Wolgast zu einem der verstecktesten maritimen Juwelen Nordostdeutschlands macht.
Das maritime Erbe einer Stadt mit einzigartiger Dualität
Vor mir erstreckt sich auf 61,73 Quadratkilometern eine Stadt, deren Herzschlag seit Jahrhunderten vom Wasser bestimmt wird. Ähnlich wie andere versteckte Hansestädte in Mecklenburg-Vorpommern bewahrt Wolgast seinen historischen Kern, doch mit einem entscheidenden Unterschied: Hier pulst noch immer das industrielle Herz der Region.
Die St. Petri-Kirche mit ihrem 40 Meter hohen Turm überragt die Altstadt – einst Hofkirche der pommerschen Herzöge im 14. Jahrhundert. Beim Aufstieg über die 184 Stufen offenbart sich ein Panoramablick, der die Dualität dieser Stadt perfekt einfängt: Backsteingotik trifft Werftindustrie, Mittelalter trifft Moderne.
Im Rungehaus, dem Geburtsort des Malergenies Philipp Otto Runge, entdecke ich, dass der berühmte Sohn der Stadt nicht nur für seine Farbenlehre bekannt war – er entwickelte auch das doppelfigürliche Skatblatt, das noch heute verwendet wird. Sarah, meine Frau, würde die originalen Farbkreisskizzen hier lieben.
Vom Herzogsitz zum industriellen Schiffbauzentrum: Ein unerwarteter Kontrast
Was Wolgast von anderen historischen Kleinstädten unterscheidet, liegt direkt am Peenestrom: Die imposante Peene-Werft. In DDR-Zeiten arbeiteten hier 3.500 Menschen im Militärschiffbau – eine Zahl, die fast ein Drittel der heutigen Bevölkerung entspricht. Die Industriekultur in Ostdeutschland hat viele versteckte Juwelen hervorgebracht, sowohl in Wolgast als auch in anderen Regionen mit überraschendem industriellen Erbe.
Als ich durch die Hafenstraße schlendere, erzählt mir ein ehemaliger Werftarbeiter von den gigantischen Schiffen, die hier einst vom Stapel liefen. Heute entstehen in der modernisierten Werft hochwertige Yachten neben Marineschiffen – ein faszinierender Spagat zwischen Vergangenheit und Zukunft.
„In Stralsund bist du einer von tausenden Touristen. Hier in Wolgast spürst du noch den echten Pulsschlag einer Arbeiterstadt am Meer. Unsere Schiffe fahren auf allen Weltmeeren, aber kaum jemand kennt unseren Namen.“
Statt Souvenirläden und überteuerten Cafés finde ich authentische Fischbuden, wo für 3,50 Euro frische Fischbrötchen angeboten werden. Die lokale Spezialität „Bullengrien“ (Kartoffelsuppe mit geräuchertem Fisch) gibt es nur hier in dieser besonderen Zubereitung.
Die Bascule-Brücke: Seltenheit und Symbol der Verbindung
Die Peenebrücke in Wolgast gehört zu den faszinierenden technischen Bauwerken Norddeutschlands, ähnlich wie andere einzigartige Verkehrsverbindungen an der Küste. Diese sogenannte Bascule-Brücke wird täglich bis zu 12 Mal angehoben, um große Schiffe passieren zu lassen – ein spektakuläres Schauspiel, das Fotografen aus der Region magisch anzieht.
Der städtische Brückenmeister – ein berufliches Unikat – erklärt mir den präzisen Mechanismus, während wir auf der Kontrollplattform stehen. Die besten Fotos gelingen bei Sonnenuntergang, wenn die Brücke in dunkelblaues Licht getaucht wird – perfekt für Instagram-würdige Aufnahmen ohne Menschenmassen im Hintergrund.
Natürliche Schätze: Die versteckte Seite des „Tors zu Usedom“
Der Ziesaberg mit seinen 49 Metern Höhe bietet einen unvergleichlichen Blick über den Peenestrom. Die Naturlandschaft um Wolgast lässt sich perfekt mit anderen Ostseejuwelen verbinden, doch hier findet man noch Ruhe abseits der Touristenmassen.
Ein echter Insidertipp: Der Peenestrom-Rundkurs (30 km) führt über ruhige Deichradwege und beinhaltet eine kleine Fährüberfahrt. Als Tor zu Usedom verbindet Wolgast Besucher mit authentischen Fischereitraditionen der Region, ohne den üblichen Touristenrummel der Kaiserbäder.
Im Sommer 2025 erwarten euch hier maritime Hafenfeste mit lokalen Fischspezialitäten – ohne Warteschlangen und überhöhte Preise. Die weiße Düne, ein traditioneller Segler, bietet versteckte Touren ins Achterwasser, die nur Einheimische kennen.
Als ich Wolgast verlasse, nehme ich den Eindruck einer Stadt mit, die ihre Authentizität bewahrt hat – eine seltene Qualität an der touristisch erschlossenen Ostseeküste. Während Emma, meine Tochter, begeistert von ihrem Besuch im kleinen Tierpark erzählt, denke ich an das lokale Sprichwort: „Wer nur Usedom kennt, kennt die Ostsee nicht.“ In Wolgast schlägt das wahre Herz der pommerschen Küste – ein maritimes Juwel, das darauf wartet, entdeckt zu werden.