Weniger touristisch als Erfurt beherbergt dieser thüringische Ort von 29.084 Einwohnern Bachs erste Kompositionen

Ich stehe auf dem mittelalterlichen Marktplatz von Arnstadt, umgeben von Fachwerkhäusern und dem stolzen Renaissance-Rathaus. Die Morgensonne taucht die 29.084-Einwohner-Stadt in goldenes Licht. Was mich sofort packt: Diese Stadt existiert seit 1.317 Jahren – der älteste Ort Thüringens, erstmals 704 n. Chr. erwähnt. Eine Besonderheit offenbart sich beim ersten Rundgang: Während Touristen in Scharen nach Erfurt und Weimar pilgern, bewahrt Arnstadt sein kulturelles Doppelerbe in erstaunlicher Stille – Johann Sebastian Bach und eine jahrhundertealte Bierbrautradition koexistieren hier in perfekter Harmonie.

Die 29.084-Einwohner-Stadt mit dem außergewöhnlichen Doppelleben

Was Arnstadt besonders macht: 90% der Altstadthäuser stehen unter Denkmalschutz – eine Dichte, die selbst UNESCO-Städte selten erreichen. Ich schlendere durch kopfsteingepflasterte Gassen, die Bach persönlich kannte.

Der junge Komponist kam 1703 als 18-jähriger Organist hierher und verbrachte prägende Jahre an der Orgel der Neuen Kirche – heute folgerichtig als „Bachkirche“ bekannt. Seine ersten bedeutenden Kompositionen entstanden hier, während er gleichzeitig die lokale Bierkultur kennenlernte.

Die Stadt birgt ein kaum bekanntes Geheimnis: Sie gilt als möglicher Geburtsort des Weizenbiers in Thüringen. Während in Alpirsbach im Schwarzwald die Klosterbrauerei bekannter ist, entwickelte Arnstadt seine eigene Biertradition in relativer Anonymität.

Im Schlossmuseum entdecke ich die faszinierende „Puppenstadt Mon plaisir“ – eine miniaturisierte Stadt aus dem 18. Jahrhundert, die das Alltagsleben zu Bachs Zeit mit unglaublicher Detailtreue darstellt. Darunter auch eine winzige Brauerei mit allen Gerätschaften.

Was Arnstadt von Erfurt unterscheidet

Nur 25 Kilometer von der Landeshauptstadt Erfurt entfernt, geht Arnstadt einen anderen Weg. Während Erfurt mit seinem Dom und der Krämerbrücke Touristenbusse anzieht, bewahrt die Bach-Stadt ihre Authentizität mit bemerkenswerter Gelassenheit.

„Hier kann man noch durch die Straßen gehen und sich vorstellen, wie Bach selbst an der Liebfrauenkirche vorbei zur Arbeit schlenderte. Diese Verbindung von Hochkultur und alltäglicher Brautradition spürt man nirgendwo sonst so unmittelbar.“

Die Liebfrauenkirche aus dem 13. Jahrhundert erinnert stilistisch an den Naumburger Dom – ein architektonisches Highlight, das von den meisten Deutschland-Reisenden übersehen wird. Während sich in Halberstadt das längste Musikstück der Welt über Jahrhunderte erstreckt, kann man in Arnstadt Bachs kurze, präzise Kompositionen in seiner ursprünglichen Wirkungsstätte erleben.

Bemerkenswert ist auch, dass Arnstadt gegen den demografischen Trend wächst – mit über 2.000 Umzügen allein im Jahr 2024. Die Stadt verbindet historisches Erbe mit lebendiger Zukunftsfähigkeit, während andere thüringische Kleinstädte mit Bevölkerungsschwund kämpfen.

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Der perfekte Besuch beginnt am Marktplatz, idealerweise zwischen 9 und 10 Uhr morgens, wenn das Licht die Fassaden optimal beleuchtet und die Touristengruppen noch nicht eingetroffen sind. Parken Sie kostenlos am Parkplatz Mühlweg und gehen Sie die 300 Meter zur Altstadt zu Fuß.

Besuchen Sie unbedingt die Bachkirche um 11:30 Uhr, wenn oft kurze Orgelvorführungen stattfinden. Anschließend empfehle ich einen Abstecher zur Brauerei Arnstadt, wo Sie traditionelles Bier probieren können – der perfekte Kontrapunkt zum musikalischen Erlebnis.

Für einen Panoramablick über die Stadt lohnt sich der kurze Aufstieg zum Alteburgturm. Von hier aus sehen Sie den gesamten Thüringer Wald und verstehen, warum Bach diese landschaftliche Inspiration in seinen Kompositionen verarbeitete. Auch Friedrichroda mit seiner Kurorttradition ist von hier aus zu erkennen.

Die mysteriöse Walpurgis-Kloster-Ruine am Stadtrand, umgeben von Legenden, wird in keinem Standardreiseführer erwähnt. Doch gerade diese versteckten Winkel machen Arnstadt zu einem Ort, den man langsam entdecken sollte.

Als ich Arnstadt verlasse, klingt das Echo der Bachschen Orgelmusik in meinen Ohren nach, während der Geruch von frisch gebrautem Bier in der Luft liegt. Meine Frau Sarah würde die Puppenstadt lieben, und meine Tochter Emma wäre begeistert vom Tierpark Fasanerie. Arnstadt ist wie eine perfekt komponierte Fuge – bescheiden in ihrer Erscheinung, aber voller Tiefe und Komplexität, wenn man sich die Zeit nimmt, sie zu entschlüsseln. Hier treffen Hochkultur und Volkskunst aufeinander und bilden eine Harmonie, die man erlebt haben muss.