Weniger touristisch als Rothenburg ob der Tauber beherbergt diese nordrhein-westfälische Stadt von 39.895 Einwohnern über 450 Baudenkmäler

Der Abendwind fegt sanft durch die verwinkelten Gassen, als ich durch das Westtor in Lemgo eintrete. Diese nordrhein-westfälische Stadt mit 39.895 Einwohnern verbirgt ein Geheimnis, das selbst erfahrene Fachwerkliebhaber selten entdecken. Auf einer Fläche von gerade mal 100,85 km² drängen sich über 450 Baudenkmäler – eine der höchsten Denkmalkonzentrationen Deutschlands. Doch anders als im überlaufenen Rothenburg ob der Tauber begegne ich hier nur vereinzelten Besuchern, die durch die stillen Straßen schlendern. Die Ruhe ist geradezu unheimlich für einen Ort, der solche architektonischen Schätze beherbergt.

Über 60% historische Bausubstanz: Deutschlands bestgehütetes Fachwerkgeheimnis

Während ich die Mittelstraße entlangschlendere, fällt mir sofort auf: Mehr als 60% der Altstadt besteht aus originalgetreu erhaltenen historischen Gebäuden. Ein lokaler Stadtführer verrät mir, dass Lemgo 2017 von Reisereporter.de zu den zehn schönsten Fachwerkstädten Deutschlands gekürt wurde – und das völlig zu Recht.

Besonders beeindruckend ist das Haus Alt-Lemgo aus dem Jahr 1587 mit seinem kunstvollen Weserrenaissance-Giebel. Anders als in dieser hessischen Stadt mit 22.600 Einwohnern und 80% Denkmalschutz sind hier die meisten historischen Gebäude keine Museen, sondern werden tatsächlich bewohnt oder als Geschäfte genutzt.

Im Rathaus, das seit dem 14. Jahrhundert kontinuierlich für Stadtgeschäfte genutzt wird, zeigt mir der Archivar eine Karte der Hansestadt. „Unsere beiden Kirchen St. Nicolai und St. Marien sind echte Besonderheiten“, erklärt er. „Besonders die unterschiedlichen Türme von St. Nicolai – einer gotisch, einer barock – sind ein Fotomotiv, das Sie nirgendwo sonst finden.“

Warum Kenner Lemgo dem überlaufenen Rothenburg vorziehen

Anders als die Plauener mit ihren authentischen Spitzenwerkstätten konzentriert sich Lemgo nicht auf ein einzelnes Handwerk, sondern präsentiert ein vollständiges Panorama mittelalterlicher Stadtkultur. Die über 450 Baudenkmäler übertreffen zahlenmäßig sogar die von Quedlinburg, ohne dessen Touristenmassen zu haben.

„In Rothenburg muss man morgens um sechs aufstehen, um ein Foto ohne Menschen zu bekommen. In Lemgo kann ich den ganzen Tag durch mittelalterliche Gassen wandern und die Stille genießen. Es fühlt sich an, als hätte man die Zeitmaschine ganz für sich allein.“

Diese Ruhe ermöglicht ein authentisches Eintauchen in die Hansegeschichte. Während ich den Grünen Wallgürtel entlangspaziere – die ehemalige Stadtmauer, heute ein idyllischer Park – wird mir klar, warum Naumburg mit seinen berühmten Stifterfiguren zwar ähnlich historisch, aber deutlich stärker frequentiert ist.

Die lokale Kunstgalerie beherbergt Werke, die die Weserrenaissance-Architektur zelebrieren. Hier entdecke ich, dass die farbigen Schmuckgiebel der Fachwerkhäuser lokale Handwerkstraditionen widerspiegeln, die anderswo verschwunden sind. Jedes siebte Haus in der Altstadt trägt diese besonderen Verzierungen.

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Der beste Zugang zur Altstadt erfolgt über den Parkplatz am Langenbrücker Tor, der selbst an Sommerwochenenden selten voll ist. Besuchen Sie Lemgo idealerweise frühmorgens zwischen 8 und 10 Uhr, wenn das Licht besonders malerisch auf den Fachwerkfassaden liegt.

Anders als in diesem sächsischen Dorf mit authentischen Weihnachtswerkstätten, das vor allem im Winter glänzt, zeigt sich Lemgo im Frühsommer 2025 von seiner besten Seite. Der Wallgürtel steht in voller Blüte, und die historischen Gassen sind noch nicht von Hochsommerhitze erfüllt.

Ein verstecktes Juwel ist der Stumpfe Turm am Rande der Altstadt – ein Überbleibsel der ehemaligen Johanniterkirche, umgeben von einem atmosphärischen Friedhof mit Gräbern aus dem 8. Jahrhundert. Der perfekte Ort, um die Geschichten dieser Hansestadt in Ruhe auf sich wirken zu lassen.

Als ich mein Notizbuch schließe und den Heimweg antrete, denke ich an die vielen überlaufenen Fachwerkstädte, die ich besucht habe. Meine Frau Sarah würde die Ruhe hier lieben – endlich ein Ort, an dem man historische Architektur ohne Gedränge fotografieren kann. Lemgo ist wie ein gut gehütetes Familiengeheimnis, das nur die Kenner teilen – ein mittelalterliches Schatzkästchen, das darauf wartet, von denen entdeckt zu werden, die das Authentische dem Touristischen vorziehen.