Weniger touristisch als Quedlinburg beherbergt Halberstadt seit 2001 das längste Musikstück der Welt

In der leichten Morgendämmerung stehe ich vor dem Halberstädter Dom, dessen gotische Silhouette sich gegen den rosafarbenen Himmel abzeichnet. Mit 40.069 Einwohnern ist Halberstadt kaum größer als ein Vorort von Portland, birgt jedoch ein musikalisches Experiment, das die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft sprengt. Hier erklingt seit 2001 ein Orgelstück, das erst im Jahr 2640 enden wird – das längste Musikstück der Weltgeschichte. Die Stadt liegt am nördlichen Rand des Harzes, 120 km westlich von Leipzig, und während Touristen nach Quedlinburg strömen, versteckt Halberstadt sein faszinierendstes Geheimnis in einer unscheinbaren Kirche.

Eine Komposition über Generationen: 639 Jahre Musik in einer mittelalterlichen Kirche

Die St. Burchardi Kirche wirkt von außen unspektakulär. Als ich eintrete, umfängt mich sofort ein tiefer, anhaltender Orgelton. Er ist so allgegenwärtig, dass man ihn fast körperlich spürt. Seit September 2001 wird hier John Cages Stück „ASLSP“ (As Slow As Possible) aufgeführt – mit einer Gesamtspieldauer von 639 Jahren.

„Die Noten wechseln manchmal erst nach Jahren„, erklärt mir der Projektleiter. Der aktuelle Klang begann im Februar 2022 und wird bis August 2026 anhalten. Deutschland birgt zahlreiche Überraschungen abseits der Touristenpfade – von unbekannten Weinparadiesen bis hin zu Halberstadts zeitlosem Musikexperiment.

Die Klanginstallation besteht aus einer speziell konstruierten Orgel mit Sandsäcken auf den Tasten, die die Töne halten. Klangwechsel werden zu kulturellen Ereignissen, bei denen Hunderte Besucher anreisen. Der nächste findet am 5. Februar 2026 statt. Die mathematische Präzision hinter dem Projekt ist beeindruckend: Die Zahl 639 wurde nicht zufällig gewählt, sondern entspricht dem Zeitraum zwischen der Fertigstellung der ersten modernen Orgel in Halberstadt (1361) und dem Millenniumsjahr 2000.

Warum ein amerikanischer Avantgarde-Komponist in einer deutschen Kleinstadt Geschichte schreibt

John Cage hätte sich wohl nie träumen lassen, dass seine Komposition in einer ehemaligen DDR-Stadt solche Bedeutung erlangen würde. Halberstadt wurde gewählt, weil hier 1361 die erste Großorgel mit moderner Tastatur gebaut wurde – ein Meilenstein der Musikgeschichte. Die Symbolik ist tiefgründig: Ein Stück, das Generationen überdauert, in einer Stadt, die selbst Jahrhunderte überlebt hat.

„Wer hierher kommt, versteht plötzlich Zeit anders. Man wird Teil eines Kunstwerks, das niemand von uns je vollständig hören wird. Das verändert etwas in dir.“

Ähnlich wie Gothas verborgene Kasematten bietet auch Halberstadt historische Geheimnisse, die selbst vielen Deutschen unbekannt sind. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg zu 82% zerstört, doch der mittelalterliche Dom und einige Kirchen überlebten – ähnlich wie das Cage-Projekt selbst überdauern sie die Zeit.

Zwischen gotischer Pracht und experimenteller Kunst: Der Kontrast macht Halberstadt einzigartig

Der 27 Meter hohe Dom St. Stephanus beherbergt einen der wertvollsten Kirchenschätze Europas: 650 Kunstwerke aus dem 5. bis 18. Jahrhundert. Die Chorschranken aus dem 12. Jahrhundert zeigen feinste Steinmetzarbeiten, während der Halberstädter Dom ähnlich beeindruckende Schätze wie die weltberühmten Naumburger Stifterfiguren beherbergt.

Im Gleimhaus, Deutschlands ältestem Literaturmuseum (gegründet 1862), entdecke ich Reliquien von Dichtern wie Goethe. Nur 15 Minuten entfernt liegt das Schachdorf Ströbeck, wo seit dem 12. Jahrhundert eine einzigartige Schachtradition gepflegt wird. Die Handwerkstradition in Halberstadt ist zwar anders ausgeprägt als die berühmten Weihnachtswerkstätten im Erzgebirge, hat aber ihren eigenen kulturellen Wert.

Was die Reiseführer Ihnen nicht erzählen

Der beste Zugang zu Halberstadt ist mit der Bahn, da die Stadt ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt ist. Parken Sie kostenfrei am Domplatz und beginnen Sie Ihren Besuch früh am Morgen, wenn das Licht durch die gotischen Fenster des Doms fällt. Deutschland bewahrt seine handwerklichen Traditionen in verschiedenen Regionen – von der Plauener Spitze bis zu den berühmten Halberstädter Würstchen.

Besuchen Sie unbedingt das Riesenweinfass im Landschaftspark Spiegelsberge – mit 78.000 Litern Fassungsvermögen das älteste erhaltene Holzfass der Welt. Für das beste Erlebnis des John-Cage-Projekts kommen Sie an einem Dienstag, wenn weniger Besucher da sind und Sie die Ruhe des anhaltenden Tons wirklich spüren können.

Während meine Frau Sarah Fotos vom Dom macht, denke ich über die Zeitlosigkeit nach, die Halberstadt durchdringt. Hier verschmelzen Vergangenheit und Zukunft: Ein mittelalterlicher Dom und ein Musikstück, das unsere Kinder, Enkel und deren Nachfahren überdauern wird. Die Sachsen-Anhalter haben ein Sprichwort: „In Ruhe liegt Kraft“ – nirgendwo wird dies so fühlbar wie in dieser Stadt, wo ein einziger Orgelton monatelang erklingen kann, während die Welt sich weiterdreht.